"20 000 Days on Earth" im Kino:Die Weisheit des Herrn Höhle

Kinostart - '20.000 Days on Earth'

Schwarzer Dandy, Mörder-Balladier, schwermütiger Schmerzensmann des Pop und endlich einer der großen Weisen dieser Kunst: Nick Cave.

(Foto: dpa)

Das Genre des Musik-Dokumentarfilms ist oft geschändet worden. Doch "20 000 Days on Earth" über einen erfundenen Tag im Leben von Nick Cave ist anders. Es könnte passieren, dass man dem Sänger verfällt.

Von Jens-Christian Rabe

Man kann sein Glück immer mal wieder kaum fassen, wenn man diesen Film sieht. Dann beugt man sich ungläubig nach vorne, als könne man ihn besser verstehen, genauer sehen, wenn man nur nahe genug dran ist.

Zunächst ist "20 000 Days On Earth", inszeniert von den beiden britischen Filmemachern Iain Forsyth und Jane Pollard, eine Dokumentation über den 1957 geborenen australischen Musiker Nick Cave. Also den Sänger, Songwriter, Dichter, Schriftsteller, Ex-Junkie und Ex-Punk, den man den "Bob Dylan der Achtziger" nannte und der lange einer der sagenumwobenen lebenden Toten des Rock 'n' Roll war.

Später - als er die harten Drogen hinter sich hatte - wurde er dann schwarzer Dandy, Mörderballadier, schließlich hochverehrter schwermütiger Schmerzensmann des Pop und endlich einer der großen Weisen dieser Kunst. Ja, man muss das jetzt doch genau so sagen, denn spätestens nach "20 000 Days On Earth" kann es daran keinen Zweifel mehr geben. Aber vielleicht erst mal eins nach dem anderen und zum Schluss noch ein Wort zur Weisheit.

Der Publikumsbeschwörer

Für seine Fans, die mindestens in den vorderen Reihen selbstverständlich Jünger sind, besteht über die Unvergleichlichkeit Nick Caves natürlich schon lange Einigkeit. Unter den begnadeten Rampensäuen des Pop ist er ja der Publikumsbeschwörer. In einer langen Konzertszene im Film wird das eindrucksvoll gezeigt. Die quasi-religiöse Verzückung, die er da zu erwecken vermag, ist ein großes Schauspiel. Die Frau im Publikum, zu der er sich herunterbeugt und deren linke Hand er zu der mantrahaft wiederholten, heiser geflüsterten Songzeile "Can you feel my heart beat" über das weit aufgeknöpfte goldene Glitzer-Hemd an sein Herz führt, nickt wie in Trance. Ein Wunder, dass sie nicht in Ohnmacht fällt, als er ihr am Ende auch noch ganz leicht mit dem Handballen auf die Stirn tippt. Der Cave-Segen.

Aber das war, wenn man so will, der Stand der Dinge. Und alle, die sich nicht zur Gemeinde zählen, befremdet dieser Pathos-Irrsinn gelegentlich, mit dem Nicholas Edward Cave - er heißt wirklich Cave mit Nachnamen, Herr Höhle - da vor aller Augen und Ohren durch die tiefsten Tiefen seiner Seelenhöhlen taumelt. "20 000 Days On Earth" ist ganz in diesem Sinne auch eine große Inszenierung geworden, aber eben doch keine orthodoxe Dokumentation. Weniger wahrhaftig nämlich, dafür wahrer. Und klüger, lustiger, kompletter, gültiger.

Ästhetik wie von David Lynch

Cave ist nicht nur Gegenstand und Erzähler des Films, er wird hier auch als Co-Autor des Drehbuchs geführt. Bei den meisten Szenen ist die Kamera eindeutig nicht nur dabei gewesen - die Szenen wurden unübersehbar für sie konzipiert. Die Ästhetik der Bilder ist wohl am ehesten mit der der Filme von David Lynch zu vergleichen. Also immer etwas schattig, düster, minimalistisch, nüchtern, rätselhaft bedrohlich. Aber Nick Cave selbst könnte ja auch sehr gut eine Figur aus einem David-Lynch-Film sein.

Dieser Wille zu Kunst und Stilisierung hätte sehr leicht ins Nirgendwo führen können, aber das Gegenteil ist der Fall. Der Effekt ist eher eine Art Befreiung von den Konventionen des Musik-Dokumentarfilms - und damit dem elenden Zwang zur Selbst-Identität, der die Protagonisten dieser Filme gerne auffrisst. Hier nicht. Wir erleben vielmehr einen erfundenen Tag im Leben Nick Caves im englischen Seebad Brighton.

Er wacht um sieben Uhr neben seiner Frau auf, spricht mit seinem Psychotherapeuten über seine frühesten erotischen Erfahrungen, kommentiert im Nick-Cave-Archiv alte Fotos und plaudert, während er in seinem Rolls durch die Gegend fährt, mit Weggefährten wie Blixa Bargeld, Ray Winstone oder Kylie Minogue. Über die Frage, wohin es führt, wenn man unbedingt jemand anderes sein möchte, darüber, was man mit einem Pop-Song überhaupt sagen kann oder darüber, wie weit das Charisma eines Stars eigentlich wirkt - bis zum letzten Zuschauer oder doch nur bis in die erste Reihe.

"Wer kennt schon seine eigene Geschichte?"

Von den Sätzen, die dabei dann plötzlich in der Welt sind, ist einer schöner als der andere: "Who knows their own story? Certainly it makes no sense when we are living in the midst of it. It's all just clamor and confusion. It only becomes a story when we tell it, and retell it." - Wer kennt schon seine eigene Geschichte? Sie ergibt gewiss keinen Sinn, während wir sie erleben. Da ist nur Chaos und Geschrei. Es wird erst eine Geschichte, wenn wir sie uns wieder und wieder erzählen.

Das Genre des Musik-Dokumentarfilms ist in den vergangenen Jahrzehnten oft geschändet worden. Viel zu oft. Zufall ist das nicht. Die Versuchung scheint zu groß zu sein, einen Star einfach nur zu beobachten, also auf den geprüften Zauber der Aura zu setzen und das Ganze mit ein paar spektakulären Bildern aus der ruhmreichen Vergangenheit und ein paar Aufnahmen aus dem privaten Leben zu garnieren. Den Rest erledigt der von Ruhm, Neugier und Verehrung geblendete Fan dann schon selbst.

Und so sind sogar die ambitionierteren Musik-Dokumentationen bestenfalls geschickte Montagen von ein paar guten Momenten und alten Geschichten (wie Malik Bendjellouls "Searching For Sugar Man"), schlimmstenfalls aber einfallslos aufgemotzte Konzertmitschnitte (wie Martin Scorseses Rolling-Stones-Doku "Shine A Light"). Der Magie des jeweiligen Künstlers ist man besser schon vorher verfallen. Und zwar idealerweise schon seit Jahrzehnten - denn dann verhelfen einem auch noch die verklärten Erinnerungen an die eigene Jugend zu einem wohligen kleinen Nostalgieschauer.

Bei diesem Film ist das alles ausnahmsweise nicht nötig. Es könnte eher passieren, dass man Nick Cave hinterher verfallen ist. Diesem Sänger, der einem durch den Kopf direkt ins Herz fassen kann. Oder umgekehrt. Und dann ist natürlich doch alles, was einmal zwischen einem selbst und seinen Songs stand, völlig egal. Dann kann der Mann so pathetisch sein, wie er will. Also beinahe wenigstens. Oder vielmehr: Das Pathos ist nicht mehr dasselbe. Womit wir bei der Weisheit wären.

Die Weisheit der Popkultur hat ja generell einen schweren Stand. Der Schriftsteller Will Self etwa hat im New Statesman kürzlich eine zornige Kolumne geschrieben, in der er seine Generation (der auch Nick Cave angehört, Self ist nur unwesentlich jünger) wortgewaltig für die herrschende "Bullshit-Kultur" verantwortlich machte: "Wir Mittfünfziger sind schuld. Wir sind die tattooten, gepiercten, kurze Hosen tragenden, Joints rauchenden, neurotischen Deppen, die die kommerzielle Ausbeutung der Gegenkultur angeführt haben. Wir haben uns die Avantgarde geschnappt und sie zu einer Hilfseinheit des kapitalistischen Blitzkriegs gemacht. Wir sind die Vollidioten, die behaupteten, dass es keinen Unterschied gebe zwischen Hoch- und Populärkultur und dass Werbung Kunst sei." Nun, Werbung meistens vielleicht wirklich nicht.

Aber wenn man bei Nick Cave ganz genau hinhört, dann scheint es, als ob er es geschafft hat, seine inneren Dämonen zu bändigen, indem er sie davon überzeugt hat, lieber erst mal nach ihren eigenen Dämonen zu suchen. Er ist nicht auf der Suche nach den bösen Geistern, um sie mit großer Geste auszutreiben. Er sucht sie, um mit ihnen so lange zu tanzen, bis sie sich auch vor ihm fürchten. Ein kleines bisschen wenigstens. Gerade so viel, dass es reicht für das merkwürdige Gleichgewicht des inneren Schreckens, das dieser Mann ausstrahlt.

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