Recherche zu Toleranz:Als Nazlı zu deutsch wurde

Deutschtürkin Die Recherche

Zwei Identitäten - ein Rechercheblog von einer jungen Deutschtürkin

(Foto: Daniel Bockwoldt/dpa)

Ein Leben, zwei Identitäten: Eine junge Deutschtürkin über ihre konservative Familie, ihre feiernden deutschen Freunde und die Vorurteile auf beiden Seiten. Und darüber, warum ein kleiner Buchstabe einen riesigen Unterschied macht.

Von einer Leserin

Dieser Bericht stammt von einer jungen Leserin. Sie schreibt über ihr Mäandern zwischen ihrer deutschen und ihrer türkischen Identität.

In zwei Welten

Ich heiße Nazlı. Oder Nazli - je nachdem, in welcher meiner zwei Welten ich mich bewege. Als ich hier in Deutschland auf die Welt kam, gaben meine Eltern mir den Namen Nazlı. Der letzte Buchstabe "ı" ist ein dumpfes i, das wie eine Mischung aus ö und e ausgesprochen wird. Er existiert nicht im deutschen Alphabet. Später, als ich deutschen Kindern begegnete, wurde ich daher erstmals Nazli genannt.

Und so wuchs ich auf. Als Nazli und Nazlı. Mit zwei Identitäten. In zwei Welten.

Als Nazlı wurde ich in einer türkischen und muslimischen Familie groß. Zu Hause wurde nur türkisch gesprochen, weil meine Eltern bis heute kaum die deutsche Sprache beherrschen. Sie haben sich zur Gänze von der deutschen Kultur abgegrenzt. Haben ausschließlich türkische Freunde. Meine Brüder ebenfalls. Es wurde viel Wert auf meine religiöse Ausbildung gelegt.

Die größte Angst des Gastarbeiters

Aber auch auf meine schulische. Mein Vater hat sein halbes Leben als Gastarbeiter verbracht und war deutschen Vorgesetzten untergeordnet, die ihre Mitarbeiter nicht immer gut behandelten. Seine größte Angst war, dass ich so enden könnte wie er. Deshalb durfte ich keine schlechten Noten mit nach Hause bringen. Ich ging in eine deutsche Schule, hatte fast nur deutsche Freundinnen, las nur deutsche Bücher.

Zugleich wurde ich immer vor den Deutschen gewarnt. Warum ich mir denn keine türkischen Freundinnen suchte, hieß es andauernd. Die Deutschen seien ein schlechter Einfluss. Sie seien Ungläubige, hätten kein Schamgefühl, legten keinen Wert auf Familie und würfen sogar ihre Kinder aus dem Haus, sobald diese erwachsen seien. Alles für uns moralisch Verwerfliche sei für sie normal und so weiter. Aber ich hatte viele deutsche Freundinnen. Keine von ihnen entsprach diesen Vorstellungen meiner Eltern.

Erstmals stellte ich als Teenager die traditionell-konservative Lebensweise, die mir oktroyiert wurde, in Frage. Wieso durften die Deutschen so viel und ich nicht? Wieso durften sie sich so anziehen, wie sie wollten, während bei mir schulterfrei schon zu freizügig war? Wieso sollten meine Brüder nicht kochen lernen, sondern nur ich? Wieso musste ich um alles kämpfen? Freiheit war immerzu nicht nur ein fremdes, sondern auch ein gefährliches Wort. Und so wurde ich immer mehr zu Nazli. Denn Nazli war frei in ihren Entscheidungen. Zu Hause war ich Nazlı, in der Schule und mit meinen Freundinnen war ich Nazli.

Deutschsein wird nur geduldet

Was das mit Toleranz zu tun hat? Sehr viel.

Im Laufe der Zeit wurde ich meinen Eltern zu deutsch. Vor allem, als ich den langen Kampf gewann und für mein Studium wegzog. Ihre Intoleranz richtete sich nun nicht mehr nur gegen Deutsche, sondern auch gegen ihre eigene Tochter. Bis heute akzeptieren sie meinen zu "deutschen" Lebensstil nicht. Sie dulden ihn. Wenn ich ihnen meinen deutschen Freund vorstellen würde, würden sie nicht einmal mehr das tun.

Die Intoleranzen, denen ich als Nazli begegne, halten sich in Grenzen. In meiner Schulzeit erlebte ich sie am häufigsten. Damals war ich immer anders als meine Mitschüler. Dieser Unterschied wurde vor allem in der Teenager-Zeit deutlich. Meine Schulfreunde trafen sich immer öfter abends, tranken Alkohol, gingen am Wochenende feiern, Mädchen durften sogar mit Jungs befreundet sein. Ich durfte abends nie raus, geschweige denn nachts in die Clubs. Dass ich keinen Alkohol trinken durfte, versteht sich von selbst. So wurde ich nach und nach zur Außenseiterin. Fühlte manchmal komische Blicke der anderen auf mir. Ich hatte zwei muslimische Freundinnen, fühlte mich aber immer zu den Deutschen hingezogen. War neidisch auf sie.

Für mein Studium zog ich weg und konnte endlich mein Leben so gestalten wie ich es wollte. Ich konnte anziehen, was ich wollte, die Wohnung verlassen, wann ich wollte, essen und trinken, was ich wollte und so weiter. Ich konnte endlich ein normales Leben führen. Ich war nicht mehr anders. Deshalb wurde ich auch als Nazli immer toleriert.

Aber in diesem Fall kann man eigentlich nicht mehr von Toleranz sprechen, weil auch nicht mehr von Andersartigkeit die Rede sein kann. Ich hatte mich ja mehr als nur integriert. Ich hatte mich sogar assimiliert - um den Begriffsdefinitionen der Integrationsspezialisten gerecht zu werden. Hätte ich ein Leben als Nazlı und nicht als Nazli gewählt, wäre ich anders. Und somit auf Toleranz angewiesen. Als Nazlı hätte ich von weitaus negativeren Erfahrungen zu berichten.

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