Streik der GDL:Gesellschaft in Geiselhaft

Lokführerstreik - Düsseldorf

Hoffen ans Ziel zu kommen: Reisende am Hauptbahnhof Düsseldorf.

(Foto: dpa)

Das Streikrecht ist aus guten Gründen in der Verfassung verankert. Aber vielleicht wäre es richtig, über separate Regeln für die Bahn nachzudenken. Italien könnte hier als Beispiel dienen.

Von Gustav Seibt

Die freie Gesellschaft zwingt uns, mit abweichenden Meinungen zu leben und Regierungen von Parteien zu akzeptieren, die wir nicht gewählt haben. Sie erlegt uns auch auf, die ärgerlichen Folgen von Streiks zu ertragen. Ohne ein wirksames Streikrecht müsste die Wirtschaft entweder zur Ausbeutung oder zu jener Mischung aus Unfreiheit, Bequemlichkeit und Ineffizienz zurückkehren, die mit der politisch-administrativ gesteuerten Planwirtschaft verbunden ist. Die freie und arbeitsteilige Marktwirtschaft braucht balancierte Arbeitsmärkte, die unter anderem dafür sorgen, dass es Menschen gibt, die die Güter, die produziert werden, auch kaufen können.

Die Koalitionsfreiheit ist sinnvoll

Zu einem funktionierenden Streikrecht aber gehört notwendig die Koalitionsfreiheit, also das Recht der Arbeitnehmer, sich zu beliebig großen oder kleinen Gruppen zu verbinden, um ihre Forderungen durchzusetzen. Beide Rechte, das Streikrecht und das Koalitionsrecht, haben aus guten Gründen Verfassungsrang. Eine einfache Überlegung zeigt, dass allzu große Gewerkschaften, die möglichst viele oder gar "alle" vertreten, wenig sinnvoll sind - es gehörte kaum zufällig zu den Klassenkampfattrappen des Staatssozialismus, nur noch Einheitsgewerkschaften zuzulassen.

Dass auch die Tarifeinheit in Betrieben nicht unbedingt die Angelegenheit des Gesetzgebers ist, sollte in einer freien Wirtschaftsordnung nicht überraschen. Wenig erstaunlich ist es daher, dass die Versuche der Bahn, den Streik gerichtlich zu unterbinden, gescheitert sind - die Rechte auf Streik und Koalitionsbildung sind in unserer Verfassungsordnung zu hoch angesiedelt, um selbst in dramatischen Einzelfällen eingeschränkt zu werden.

Die Wut der Bahnreisenden ist verständlich

Die Erregung über das entschlossene Machtstreben Claus Weselskys und seiner Lokführergewerkschaft ist also erst einmal wenig überzeugend. Der Mann mag nicht besonders einnehmend auftreten, er hat das Recht und die Logik des Systems auf seiner Seite - also macht er von der Möglichkeit Gebrauch, innerhalb weniger Stunden zwei Drittel des Personenverkehrs und den halben Güterverkehr der Bahn lahmzulegen. Allerdings gehört auch das Herauslassen von Wut zur liberalen Gesellschaft, solange es die persönliche Integrität und die Privatsphäre der Betroffenen nicht verletzt. Claus Weselskys Anliegen wären gewiss leichter zu ertragen, wenn er weniger hartleibig und rechthaberisch aufträte, aber man sollte ihn als Person trotzdem respektieren.

So weit das Selbstverständliche. Trotzdem ist der Eindruck von Maßlosigkeit, auf den die verbreitete Wut jetzt reagiert, keine reine Gefühlssache, sondern wohlbegründet. Die allgemeine Mobilität, in der unsere Gesellschaft lebt, erweist in solchen Streikwochen ihren fundamentalen Charakter. Sie ist, wie wir in diesen Tagen lernen, beides, nicht selbstverständlich und zugleich zwingend notwendig. Kulturkritiker und Naturfreunde denken bei "Mobilität" gern an Selbstverwirklichung und Verschwendung, an zu viele und umweltschädliche Urlaubsreisen, oder daran, dass man nicht unbedingt im Winter Himbeeren aus Marokko essen muss. Gewiss, auch Freizügigkeit ist ein Grundrecht, aber muss man deshalb unentwegt auf Achse sein?

Es gibt kein Verfassungsrecht auf Mobilität

Ein Verfassungsrecht auf Mobilität gibt es jedenfalls nicht, vielleicht auch deshalb, weil sie halb zur Natur des Menschen gehört, wie das Essen und Trinken, halb aber historisch ist, unauflösbar verknüpft mit der Geschichte der Zivilisation. Die Mobilität ist zu groß, zu unhandlich für Verfassungen. Von den ältesten Wanderungen über die Zähmung der Pferde, die Erfindung der Schifffahrt bis zum modernen Schienen-, Auto- und Luftverkehr lässt sich die Geschichte der Menschheit nämlich als Entwicklung ihrer Beweglichkeit im Raum beschreiben.

In der modernen Welt ist die freie, auch grenzüberschreitende Mobilität von Menschen und Gütern ein ähnliches Grundprinzip wie das Gewaltmonopol im modernen Staat oder wie die Meinungs- und Kommunikationsfreiheit für die freie Gesellschaft. Das riesige, erstaunlich wohlgeordnete Durcheinander von Millionen Verkehrsteilnehmern, das sich täglich erneuert, ist bis heute die sichtbarste Gestalt, die es von dem Leviathan überhaupt gibt, den man "Gesellschaft" nennt.

Streik bringt das Uhrwerk der Gesellschaft zum Stillstand

Hier realisiert sich Tag für Tag ein Wunder von Steuerung und Selbstorganisation, das jedem Teilnehmer Aufmerksamkeit, Pünktlichkeit, Regelbefolgung und Rücksicht abverlangt. Dass hier Tag für Tag auch unzählige Fehler und Unfälle passieren, kann nicht verwundern, erstaunlich ist vielmehr, dass es im Verhältnis zum Ganzen so wenige sind. Kursbücher sind Wunderwerke der Zivilisation, der unentwegte Fluss des Individualverkehrs ist es nicht minder.

Diese komplexe Riesenmaschinerie, das Uhrwerk einer ganzen Gesellschaft, mit wenigen Griffen in großen Teilen tagelang aufzuhalten - das ist es, was das betroffene Publikum in diesen Wochen mit guten Gründen als unverhältnismäßig empfindet. Mit so geringem Aufwand gelingt das nur im Schienenverkehr, wo Fahrzeuge mit Tausenden Insassen von Einzelnen gesteuert werden, zahlenmäßig vergleichbar nur großen Ozeanschiffen, die allerdings deutlich größere Besatzungen brauchen als Züge.

Wohl auch deshalb wurde der Eisenbahnverkehr anders als die gleichzeitig aufkommende Dampfschifffahrt bei seiner Entstehung im 19. Jahrhundert rasch zu einer hoheitlichen Aufgabe - in Deutschland und Italien ist sogar die Entstehung des Nationalstaats eng mit dem Ausbau der Eisenbahn verbunden.

In Italien gilt ein besonderes Streikrecht für die Bahn

Die Verbindung von Eisenbahn und Staat wurde in Europa erst in der letzten Generation gelockert. Es fragt sich nach den jetzigen Erfahrungen, ob sie nicht wieder enger gemacht werden sollte. Bemerkenswerterweise hat ausgerechnet Italien dafür das Beispiel eines separaten Streikrechts für die Staatsbahn geliefert, festgelegt in einem Zusatz zur Verfassung. Eine Grundversorgung bleibt gesichert, Streiks und Ersatzfahrpläne müssen mehrere Tage vorher angekündigt werden. Damit wird nicht das Kräfteverhältnis zwischen Betrieb und Arbeitnehmern verschoben, aber die Geiselnahme einer ganzen Gesellschaft verhindert.

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