Ukraine-Krise:Die neue Mauer

In Berlin gedenkt man des Falls der Mauer vor 25 Jahren. In der Ostukraine wird derweil eine neue Mauer hochgezogen - real und in den Köpfen. Die Ursachen sind verdrängte Traumata, historische Schuldgefühle und Scham. Was für ein Psychodrama!

Kommentar von Cathrin Kahlweit

Die Mauer ist weg; dort, wo sie bis vor 25 Jahren verlief, stiegen am Sonntag weiße Ballons in die Luft. Die Grenze, die Ost- und Westdeutschland trennte - sie löste sich einfach auf. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn eine Mauer ist wieder da. Real, und in den Köpfen auch. Und wenn man genau hingeschaut hat, war sie auch nie ganz weg.

In der Ostukraine etwa, nördlich von Charkiw, kann man sie wieder sehen: Dort wird ein übermannshoher, oben abgeknickter Stacheldrahtzaun mit Wachtürmen gebaut. Panzerwagen patrouillieren an einer Sperranlage zu Russland, die nach dem Willen der ukrainischen Regierung einmal 2000 Kilometer lang werden soll; die avisierten Kosten von angeblich nur 14 Millionen Euro klingen dabei wie Volksverdummung. Diese Mauer soll, anders als jene von 1961, nicht etwa Bürger davon abhalten, sich einen anderen Staat zu suchen. Sie soll einen Staat davon abhalten, sich ein neues Volk zu erobern.

Der Zaun ist Hybris, geboren aus Populismus und Angst. Und doch ist dieses Bauwerk nur eine traurige Stellvertreterin für eine andere, innere Mauer, die sich gerade wieder neu zusammensetzt und den Platz in unseren Köpfen beansprucht, den sie bis zum Fall des Eisernen Vorhangs gehabt hatte.

In Russland Nationalismus, im Westen Ratlosigkeit

Angst geht um vor Russland, vor einer Ausweitung des Krieges, der bisher noch lokal begrenzt ist. Vor einem neuen Antagonismus, der die Welt in Blöcke teilt und sie nicht als verzahnte Sphären sieht. Michail Gorbatschow, dem die Welt ein friedliches Ende des Kalten Krieges im 20. Jahrhundert verdankt, hat am Montag in Berlin gewarnt: Jetzt gelte es, nicht alles zu zerschlagen und zu zerstören, was in den vergangenen Jahrzehnten an neuem Vertrauen aufgebaut worden sei. "Wir dürfen", sagte er, "nicht zulassen, dass eine neue Mauer entsteht."

Er hat recht. Andererseits muss es seiner Sehnsucht nach einer positiven Würdigung in den russischen Geschichtsbüchern geschuldet sein, dass der alte Herr die Ukraine, die Krim und den Krieg im Donbass dabei mit keinem einzigen Wort erwähnte. Dabei sind vor allem sie der Grund, dass Vertrauen bröckelt, dass alte Zweifel wachsen, Traumata aus der Verdrängung ins Bewusstsein zurückdrängen. Und dass kollektive Erinnerung zu neuen Schreckensszenarien gerinnt.

Denn für Polen und Balten, für Tschechen, Slowaken und Ungarn liest sich die aktuelle Eskalation in der Ukraine wie eine Neuauflage dessen, was sie im vergangenen Jahrhundert erlebt haben: Teilung, europäischen Kolonialismus, russische Arroganz, Unterdrückung, Tod. In der Psychologie nennt man das Triggern: Ein Ereignis, das einen Schlüsselreiz enthält, kann ein Flashback auslösen - ein neuerliches Durchleben des alten Schmerzes.

Was für ein Psychodrama

Und nicht nur in den mittelosteuropäischen Staaten wird ein Jahrhundert-Trauma mit zwei Kriegen, erfolglosen Selbstbefreiungsversuchen und gescheiterten Aufständen neu erlebt, wie sie von Ostberlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968 markiert werden: Die Ukraine war Russlands Wiege, später die kleine Schwester, aber das große Sterben des Holodomor und die Gewaltherrschaft zweier Diktaturen haben auch hier die Basis gelegt für das neue Gefühl des Ausgeliefertseins.

So viele Verletzungen, so viel Leid, gerade mal zwei, drei Generationen her, und die alte, virtuelle Mauer in den Köpfen lebt weiter, nunmehr innerlich verschoben um tausend Kilometer weiter nach Osten. Was für ein Psychodrama: Der aggressive, oft pathetische Nationalismus Wladimir Putins, gepaart mit neuen Machtansprüchen, steht einem ratlosen Konzert europäischer Stimmen entgegen, die an Gemeinsamkeiten mit Russland appellieren und doch derzeit kaum welche entdecken können. Historische Schuldgefühle und Dankbarkeit gegenüber Russland vor allem von deutscher Seite mischen sich mit der Scham darüber, dass "der Westen" im Falle der Ukraine seine eigenen Werte zwar einklagen, aber nicht durchsetzen kann. Was wächst, ist Fremdheit, was droht, ist Abschottung.

Aller guter Wille ist nutzlos angesichts alter Rechnungen

Hinzu kommt eine Lebenslüge der EU: Die neue Ära nach dem Mauerfall 1989 hat zwar eine Integration des postsowjetischen Ostens in den prosperierenden Westen mit sich gebracht - samt den Versprechen von Wohlstand und Sicherheit.

Aber all die Formate, die zur Verzahnung von Ost und West unter Einbindung des alten Angstgegners Moskau erfunden wurden, haben sich in dem Moment als nutzlos erwiesen, als statt guten Willens alte Rechnungen präsentiert wurden.

Die Mauer, die 1961 gebaut wurde, ist gefallen, weil die DDR-Bürger gegen sie anrannten, nicht, weil die Nato sie eingerissen hat. Die neue Mauer in den Köpfen kann nur fallen, wenn Europäer und Russen sagen: Wir sind das Volk.

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