Contra: Kritik an Wirtschaftspolitik:Europas Weg ist richtig

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Exporteur Deutschland: Eine Arbeitsmarktreform hat hierzulande Wunder gewirkt.

(Foto: dpa)

Niedrige Inflation und das geringe Wachstum bedeuten nicht, dass Europa nun für immer vor sich hinsiecht. Es sind unschöne Begleiterscheinungen eines notwendigen Gesundungsprozesses.

Kommentar von Claus Hulverscheidt

Nein, Jacob Lew hat nicht recht. Anders als der Minister glaubt, sind die niedrige Inflation und das geringe Wachstum in der EU keineswegs die Vorboten eines ewigen, von engstirnigen Sparhanseln verursachten Siechtums. Sie sind vielmehr unschöne Begleiterscheinungen eines zwar langwierigen, aber notwendigen Gesundungsprozesses. Man erinnere sich an die Agenda 2010, die wegen zunächst explodierender Arbeitslosenzahlen jahrelang als Fehlschlag galt. Heute weiß man: Hätte die rot-grüne Koalition die Reform des Arbeitsmarkts - und auch die vorangegangene Steuerreform - unterlassen und stattdessen den Wunderheiler Lew bestellt, stünde Deutschland heute nicht an der Spitze, sondern am Ende der europäischen Wirtschaftsliga.

US-Finanzminister Jacob Lew: Warnung aus Washington

Vor dem Treffen der 20 wichtigsten Volkswirtschaften der Welt am Wochenende im australischen Brisbane hat US-Finanzminister Jacob Lew scharfe Kritik an Europa geübt: Den EU-Staaten sei es nicht gelungen, für ein gesundes Wachstum zu sorgen. Falls sie sich nicht mehr anstrengen, drohe ein noch stärkerer Einbruch der Konjunktur. "Die Politik des Status quo in Europa hat nicht zu dem von den G 20 vereinbarten Ziel von starkem, nachhaltigem und ausgeglichenem Wachstum geführt", heißt es in Lews vorab verbreitetem Redetext. Die Regierung in Washington fordert die Europäer auf, ihre Haushaltspolitik zu ändern. Die Welt könne sich ein "verlorenes Jahrzehnt" in Europa nicht leisten. Zwar habe die Europäische Zentralbank konsequente Schritte unternommen, um die Wirtschaft zu stützen, doch reiche das nicht aus, damit das Wachstum zurückkehrt. Lews Kritik richtet sich vor allem an Länder mit finanziellen Spielräumen wie Deutschland. Die Amerikaner befürchten, eine Verschärfung der Konjunkturkrise in Europa könne auch der US-Wirtschaft schaden. Die USA, argumentiert Lew, könnten nicht allein für einen Aufschwung der Weltwirtschaft sorgen. Um mehr Wachstum zu schaffen, seien die Geld- und Fiskalpolitik gefragt, aber es seien auch Strukturreformen nötig. jawi

Lews Rezept für die EU lautet vereinfacht gesagt: Wenn die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Schleusen nur weit genug öffnet, und wenn gleichzeitig die Bundesregierung so viele Milliarden wie möglich auf Pump investiert, dann wird daraus schon Wachstum entstehen. Das stimmt sogar. Die entscheidende Frage ist nur: Was für ein Wachstum wäre das?

Die Antwort ist keine akademische, sie lässt sich besichtigen. Etwa in Spanien, wo der Bauboom der Nullerjahre Straßen hinterlassen hat, die nirgendwo hinführen, Brücken, die nichts überbrücken und Flughäfen, von denen niemals ein Jet starten wird. Natürlich kann man das wiederholen. Man kann auch mit dem Füllhorn durch Griechenland ziehen und das alte System aus Miss- und Vetternwirtschaft wiederbeleben. Oder man schaufelt Geld nach Süditalien, wo es dann Mafia-Clans unter sich aufteilen. Aber noch einmal: Wäre das sinnvoll? Oder ist es nicht vielleicht doch vernünftiger, die Ursachen von Misswirtschaft und Wettbewerbsschwäche zu beseitigen und damit die Basis für eine langfristig tragfähige Wirtschaftsentwicklung zu schaffen?

Lews Konzept funktioniert nicht

Hier hilft ein Blick nach Japan, für das Lews Wort vom "verlorenen Jahrzehnt" ja geprägt wurde. Warum also kämpft Tokio seit 20 Jahren mit Stagnation und Deflation? Weil die Regierung einen strikten Sparkurs fährt und ein Trupp ultraorthodoxer Hochzinspolitiker die Notenbank führt? Falsch. Richtig ist: Seit Mitte der Neunzigerjahre türmt Japan Jahr um Jahr Budgetdefizite von bis zu zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf, die Gesamtverschuldung hat mittlerweile fast 250 Prozent erreicht. Das ist Grusel-Griechenland mal anderthalb! Ebenso lange liegt der Leitzins praktisch bei null. Obwohl also besagte Schleusentore seit zwei Jahrzehnten sperrangelweit offen stehen, wird das BIP Ende 2014 unter dem Niveau von 1994 liegen. In China, nur zum Vergleich, hat sich die Wirtschaftsleistung im selben Zeitraum verzehnfacht.

Der Grund für die Endlosmisere ist, dass Japan die wahren Probleme nur halbherzig anpackt: die vielen faulen Kredite nach dem Platzen der Immobilienblase, die allgemeine Lähmung nach dem Verlust der technologischen Weltmarktführerschaft, die Demografie-Zeitbombe. Im Grunde hat der US-Finanzminister mit dem umgemünzten Wort vom "verlorenen Jahrzehnt" ein Eigentor geschossen: Japan ist das Paradebeispiel, dass sein, Lews, Konzept nicht funktioniert.

Lieber mal vor der eigenen Türe kehren

Nur wer akzeptiert, dass ohne Strukturreformen alle Wachstumsbemühungen nichts sind, kann fragen, welchen zusätzlichen Beitrag die Geld- und die Finanzpolitik leisten können. Klar ist: Die Pläne der EZB für ein gigantisches Programm zum Kauf von europäischen Staatsanleihen, im Fachjargon "Quantitative Easing" (QE) genannt, würde der griechischen oder der spanischen Wirtschaft zunächst nichts bringen, gar nichts. Allenfalls über den sehr weiten Umweg eines sinkenden Wechselkurses könnte QE wirken.

Und die Finanzpolitik? Richtig ist, dass es in Europa in puncto Infrastruktur, Bildung und schnelles Internet Investitionsbedarf gibt. Hier steht auch und gerade Deutschland in der Pflicht, mehr zu tun - ohne allerdings die mühsam erreichte, so viel Vertrauen stiftende Haushaltsdisziplin wieder aufzugeben. Wer im Übrigen einmal einen Blick hinter die blinkende Fassade von Apple, Google und Co. in den USA wirft, wird auch dort ein Land mit Modernisierungsbedarf entdecken. Ja, mehr noch: Wenn Deutschland eine Investitionslücke aufweist, dann tut sich in Amerika ein wahrer Investitionskrater auf.

Vielleicht wäre es für die Weltkonjunktur insgesamt am nützlichsten, wenn alle Beteiligten weniger dem jeweils anderen Ratschläge erteilen würden und dafür mehr dort kehrten, wo sie es am einfachsten könnten: vor der eigenen Tür.

Pro und Contra: Droht Europa ein verlorenes Jahrzehnt?

Eine Frage - zwei Sichtweisen. Den Anfang macht Jan Willmroth mit der These: "Deutschland prägt in der EU eine Politik, die scheitert." Claus Hulverscheidt legt nach: "Europa wird gerade gesund - das dauert eben."

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