Geheime Dokumente über Islamischen Staat:Im Vorgarten des Terrors

Geheime Dokumente über Islamischen Staat: Rauch steigt auf über einer Ölraffinerie nahe Bagdad. Der Islamische Staat (IS) versucht auch immer wieder Ölfelder in seine Gewalt zu bekommen. Die Haupteinnahmequelle der Terrororganisation liegt jedoch woanders.

Rauch steigt auf über einer Ölraffinerie nahe Bagdad. Der Islamische Staat (IS) versucht auch immer wieder Ölfelder in seine Gewalt zu bekommen. Die Haupteinnahmequelle der Terrororganisation liegt jedoch woanders.

(Foto: AP)
  • Dokumente aus einem Geheimarchiv zeigen, welche staatlichen Strukturen sich der Islamische Staat (IS) geschaffen hat.
  • Von Krankenversicherung bis Heiratsbeihilfen: Der IS sichert seine Macht im Inneren durch ein ausgefeiltes Sozialsystem ab.
  • Wesentliche Einnahmequellen sind hohe Geldzahlungen von Geschäftsleuten. Hierbei handelt es sich nicht um freiwillige Spenden, sondern um Schutzgeld-Erpressung.

Von Georg Mascolo und Volkmar Kabisch, Bagdad

Die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) hat bereits weitgehende staatliche Strukturen errichtet. Sie ist viel mehr als eine Miliz, die Anschläge vorbereitet und verübt. Sie hat ein straff organisiertes Staatswesen mit einem ausgeklügelten Sozialsystem aufgebaut und setzt offenbar auf Schutzgeld-Erpressung, um Waffenkäufe zu finanzieren; zudem betreibt sie gezielte Personalplanung für den Einsatz von Selbstmordattentätern. Das belegen interne IS-Dokumente, die der Süddeutschen Zeitung sowie dem NDR und WDR von der irakischen Regierung in Bagdad zur Verfügung gestellt wurden.

Die Dokumente geben in bisher nicht gekannter Weise Einblicke in die innere Organisation des IS, der Menschen mit finanziellen Zuwendungen an sich bindet und sie so für seine Ziele gewinnt. Der IS sichert seine Macht im Inneren durch ein ausgefeiltes Sozialsystem ab - mit Krankenversicherung, Heiratsbeihilfen und Unterstützungszahlungen für die Familien getöteter oder inhaftierter Dschihadisten. Zudem findet offenbar zwischen den IS-Provinzen, die sich über weite Teile des Irak und Syriens erstrecken, eine Art Länderfinanzausgleich statt, bei dem reiche Bezirke an ärmere Hilfszahlungen leisten.

IS versteht sich als Staat

Das vertrauliche Material wurde nach Angaben der irakischen Regierung am 5. Juni dieses Jahres bei einer Razzia im Versteck des zweiten Mannes des Islamischen Staates, Abdel Rahman al-Bilawi, beschlagnahmt. Al-Bilawi galt den irakischen Behörden als "Kriegsminister" des IS, er wurde bei der Aktion erschossen. Der irakische Vize-Innenminister Adnan Al-Assadi bezeichnete die Razzia als "von großer Bedeutung. Al-Bilawi war ein sehr wichtiger Anführer, deren Nummer zwei, und wir profitieren von den beschlagnahmten Daten und Dokumenten".

Geheime Dokumente über Islamischen Staat: Der Ausweis von Abdel Rahman al-Bilawi.

Der Ausweis von Abdel Rahman al-Bilawi.

Über den Fund, insgesamt angeblich mehr als 160 USB-Sticks und Festplatten, berichtete im Juni erstmals der Guardian. Das britische Blatt nannte sie einen "Schatz". Nach Angaben irakischer Regierungsstellen seien Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR nun die ersten ausländischen Medien, denen Zugang zu einem Teil der Dokumente gewährt werde. Amerikanische und europäische Geheimdienste sollen ebenfalls über einen Teil des Bestands verfügen. Nach Einschätzung des Terrorismusexperten Peter Neumann, Professor am Londoner King's College, zeigt das Material, dass der IS sich buchstäblich als Staat verstehe. "Sie möchten als Staat ernst genommen werden, und sie handeln wie ein Staat", sagte Neumann.

Die Papiere stammen aus dem Jahr 2013, reichen bis ins Frühjahr 2014 und beschreiben überwiegend die Lage im Irak. Sie belegen vieles, was bisher über den IS lediglich vermutet wurde und fügen zugleich zahlreiche neue Details hinzu. So verfügen alle neun IS-Provinzen im Irak offenbar über einen eigenen Etat, zudem legen sie über Einnahmen und Ausgaben monatlich gegenüber der Führung des Islamischen Staates und dem selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi Rechenschaft ab. Auch über die politische Lage in ihren Bezirken berichten die "Emire" regelmäßig, etwa über die Einstellung sunnitischer Stämme gegenüber dem IS.

Terror-Organisation IS - Blick ins Innenleben

Von Sozialsystem bis Personalbögen: Der Islamische Staat heißt nicht nur so, er handelt auch wie ein Staat. Geheime Dokumente, die SZ, NDR und WDR vorliegen, gewähren einen Einblick in die staatlichen Strukturen der Terror-Truppe. Lesen Sie die Reportage in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung und in der digitalen Ausgabe für Tablet, Smartphone und Windows 8.

Waffen von korrupten irakischen Soldaten

Aus einem Dokument ergibt sich, dass die Kosten für das Sozialsystem des Islamischen Staates bisweilen sogar die Ausgaben für den Ankauf von Waffen übersteigen. In einem anderen Papier finden sich Hinweise darauf, dass der IS, schon bevor er im Irak modernste Waffen amerikanischer Herkunft erbeutete, solches Kriegsgerät auf dem Schwarzmarkt ankaufen konnte, darunter M-4-Sturmgewehre und Nachtsichtgeräte. Es besteht der Verdacht, dass diese bei korrupten irakischen Soldaten beschafft wurden.

Im Bezirk Bagdad gehören zu den wesentlichen Einnahmequellen ausweislich eines Dokuments hohe Geldzahlungen von Geschäftsleuten, teilweise 50 000 Dollar im Monat von einer Person. Laut den irakischen Behörden handelt es sich hierbei nicht um freiwillige Spenden, sondern um Schutzgeld-Erpressung. Das amerikanische Finanzministerium nennt IS "die am besten finanzierte Terroristen-Organisation, mit der wir es je zu tun hatten". Die Dokumente scheinen dies zu belegen: Allein der Bezirk Bagdad-Nord gab im November 2013 genau 493 200 Dollar aus.

Bonuszahlungen für "besondere Operationen"

Die Papiere erlauben zudem einen Einblick in den Aufbau der militärischen Strukturen des IS. So wird laut einer Liste aus Haditha im Nordwesten des Irak jeder neue Freiwillige registriert. Verzeichnet werden Dienstgrad - Soldat, Kämpfer oder Emir - und die Bewaffnung. In einer gesonderten Spalte werden spezielle Fähigkeiten notiert sowie Abwesenheiten wegen Krankheit oder "Urlaub". Zudem werden für "besondere Operationen" Bonuszahlungen gewährt. Einem Scharfschützen wurde beispielsweise ein Haus gebaut.

In einer Art Kartei werden "Märtyrer" registriert, die für Selbstmordattentate abkommandiert sind. Meist hinterlassen sie eine Telefonnummer, sodass später ihre Familien oder Freunde unterrichtet werden können. Aus den Unterlagen ergibt sich, dass viele der Freiwilligen schon eine Woche nach ihrer Ankunft im Irak ihr Selbstmordattentat begehen.

IS setzt auf umfassende Propaganda

Nach Erkenntnissen deutscher Sicherheitsbehörden sollen sich inzwischen bis zu neun aus Deutschland stammende Dschihadisten im Auftrag des IS in die Luft gesprengt haben. Unterlagen zu deutschen Selbstmordattentätern liegen Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR nicht vor. Auch Dokumente über die oft behauptete finanzielle Unterstützung des IS aus dem Ausland wurden von der irakischen Regierung nicht zur Verfügung gestellt. Der stellvertretende Innenminister Al-Assadi sagte der SZ, vieles aus dem Archiv müsse "wegen fortlaufender Operationen" geheim bleiben.

So professionell wie keine Terror-Organisation zuvor setzt der IS auf umfassende Propaganda, um neue Unterstützer zu rekrutieren. Diese Aufgabe wird von einem eigenen "Informationsministerium" wahrgenommen, aus den Provinzen arbeiten ihm "Informations-Emire" zu.

Der getötete "Kriegsminister" Al-Bilawi galt als enger Vertrauter des heutigen Kalifen Baghdadi, beide saßen nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 gemeinsam in US-Haft. Nach einer Reihe verheerender Niederlagen verweist die irakische Regierung derzeit auf erste militärische Erfolge im Kampf gegen den IS.

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