Psychologie des Spendens:Mit Herz - aber ohne Verstand

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Wer Geld spendet, lässt sich selten von seinem Verstand leiten. (Foto: N/A)

Warum kommen bei Naturkatastrophen schnell riesige Summen an Spenden zusammen, bei einer furchtbaren Seuche wie Ebola aber nicht? Mit rationalem Handeln haben die Geldgeschenke nicht viel zu tun - unseriöse Organisationen nutzen das gerne aus.

Von Hannah Wilhelm und Jan Willmroth

Paul Slovic weiß viel darüber, was in den Köpfen der Menschen passiert, wenn sie Geld spenden. Wenn sie etwas überweisen, nachdem wie im vergangenen Jahr ein Taifun über die Philippinen hinwegfegt und das Land verwüstet. Wenn ein trauriges bolivianisches Kind auf einer Broschüre sie rührt und zum Spenden animiert. Slovic ist Psychologieprofessor an der University of Oregon in den USA und einer der wichtigsten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Risikowahrnehmung. Seit mehr als einem Jahrzehnt erforscht er die Psychologie des Spendens. "Wir helfen anderen, weil es uns ein gutes Gefühl gibt - nicht unbedingt, weil sie Hilfe brauchen", sagt er. Spenden also, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Um das Gefühl zu haben, etwas Gutes zu tun. Und um zu helfen?

Slovic hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, was die Spendenbereitschaft beeinflusst. In einem seiner Experimente legte er Probanden ein Foto vor, das ein hungerndes afrikanisches Mädchen zeigt. Eine Gruppe bekam nur dieses Bild zu sehen, mitsamt dem Namen des Mädchens und ihrer Biografie, eine andere Gruppe sah direkt daneben Statistiken über das ganze Ausmaß der Hungersnot: Wie viele Menschen hungern, wie viele Kinder krank werden oder an Unterernährung sterben. Diejenigen, die nur das Kind sahen, spendeten im Schnitt doppelt so viel. "Wir reagieren stark auf einzelne Menschen in Not", sagt Slovic. Die haben ein Gesicht, einen Namen, eine Geschichte. "Zahlen schrecken uns ab. Sie transportieren keine Gefühle."

Organisationen, die um Spendengelder werben, kennen die Ergebnisse von Forschern wie Slovic gut. Ob in Briefen, auf Werbetafeln oder im Fernsehen: Immer sind Menschen zu sehen, Einzelschicksale, und wenn überhaupt, dann nur wenige Zahlen. In Kürze, während der Adventszeit, hat Spendenwerbung wieder Hochkonjunktur. Überall brauchen Menschen Hilfe, ganz besonders im Dezember, wenn bei vielen das Geld locker sitzt.

"Die Arithmetik des Mitgefühls ist seltsam. Und oft irrational."

Schon vorher zeichnete sich ab, dass 2014 eines der Jahre mit dem höchsten Spendenaufkommen in der deutschen Geschichte werden dürfte. Eine verlässliche Statistik gibt es dazu allerdings nicht. Das Deutsche Zentralinstitut für Soziale Fragen, das vertrauenswürdige Organisationen mit dem offiziellen Spendensiegel auszeichnet, geht von sechs bis sieben Milliarden Euro aus, die in Deutschland jedes Jahr gespendet werden. "Das ist vermutlich noch zu wenig", sagt dessen Geschäftsführer Burkhard Wilke, "viele Spenden, für die keine Quittung ausgestellt wird, kann man nämlich nicht erfassen." Trotzdem sind Trends erkennbar: Die Zahl der Spender sinkt, aber die durchschnittliche Spendenbereitschaft nimmt zu. Bei besonderen Ereignissen wie dem Elbe-Hochwasser 2013 kommt auch mal mehr auf einmal zusammen. Oft sind es diese Naturkatastrophen, mit guten Fernsehbildern, Stoff für Schicksalsgeschichten und Spenden-Galas, die zum Spenden animieren. Und eben nicht die grundsätzliche Überlegung, wann und wo man mit seinem Geld etwas Gutes tun sollte.

Gerade in diesem Jahr wären solche Überlegungen aber vonnöten. Der syrische Bürgerkrieg und der Terror des IS haben zu einer humanitären Katastrophe geführt, am Ebola-Virus sind nach Zahlen der Weltgesundheitsorganisation bereits mehr als 5000 Menschen gestorben, und trotz aller Mühen gegen den Hunger ist noch immer eines von sieben Kindern unter fünf Jahren weltweit unterernährt.

Wenn eine Katastrophe passiert, die ein großes Medienecho auslöst, kommen schnell riesige Summen zusammen - und die stellen Organisationen immer wieder dann vor Probleme, wenn sie zweckgebunden sind. Nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon im Jahr 2001 trat der US-Chef des Roten Kreuzes zurück, nachdem bekannt geworden war, dass Geld für die Opfer des elften Septembers in andere Kanäle floss. Es war einfach zu viel. Warum haben Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen dagegen Probleme, genügend Mittel für den Kampf gegen eine furchtbare Seuche wie Ebola einzutreiben?

Zunächst einmal laufen nicht viele Fernsehteams in Westafrika herum und interviewen Erkrankte, es mangelt an emotionalen Geschichten, noch gab es keine Benefiz-Konzerte. Eine Naturkatastrophe, sagt Slovic, laufe nach den Regeln einer Erzählung ab: Sie hat einen Anfang, dann entwickelt sie sich, und irgendwann ist ein Ende absehbar. Krankheiten wie Ebola, Malaria und Aids sind diffuse Probleme ohne festen Ort - also auch ohne direkten Bezugsort für eine Spende - und mit offenem Ende. Zudem fehlt bei Ebola ein Mittel, das die Krankheit wirksam bekämpft. "Dann fühlt sich eine Spende an wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Man kann ihre Effekte nicht beobachten", sagt Slovic. "Die Arithmetik des Mitgefühls ist seltsam. Und oft irrational."

Gerade weil Menschen beim Spenden so irrational handeln, tummeln sich auf dem Gebiet viele unseriöse Anbieter. Das kann wohl kaum jemand besser einschätzen als der Journalist Stefan Loipfinger. Er hat sich viele Jahre intensiv mit Spendenorganisationen auseinandergesetzt. Nach dem Austritt aus der Kirche fragte er sich, wo die gesparte Kirchensteuer gut aufgehoben wäre. Wo er helfen könnte. Keine triviale Frage für einen ausgebildeten Banker, der jahrelang einer der prominentesten Kritiker der zwielichtigen Branche der Geschlossenen Fonds in Deutschland war.

Ihm wurde schnell klar, dass auch bei Spendenorganisationen vieles falsch läuft. Auf seiner Website CharityWatch.de schrieb er darüber. Vier Jahre später, im Jahr 2012, gab er auf. Er hatte die juristischen Auseinandersetzungen satt, die Verleumdungen und die Drohungen gegen seine Familie. Zu viele unseriöse Anbieter machten ihm das Leben schwer. "Mir fehlen die Möglichkeiten, gegen alles in dem Bereich vorzugehen. Das ist wie eine Hydra, Du schlägst einen Kopf ab und es wachsen zwei nach", sagt Loipfinger.

Die Maschen der Sammler: Immer Einzelschicksale schildern. "Die kleine Melinda hat Krebs und kann sich die Medikamente nicht leisten", nennt Loipfinger ein Beispiel. Unseriöse Anbieter gehen dabei noch drastischer vor: "Da wird der Tumor auf dem Foto gezeigt und dann steht da: Wenn Sie heute spenden, kann Melinda in einem Monat noch leben." Es wird also ein Druck aufgebaut, dass Melindas Leben von genau dieser Spende abhängt. "Je größer der Druck, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass eine Organisation unseriös ist."

Die Menschen schauen nicht darauf, wohin ihr Geld wirklich fließt

Ein großes Problem sei, dass die Menschen nicht darauf schauten, wohin ihr Geld wirklich fließt. "Der Zweck scheint ja in dem Moment erreicht, in dem sie spenden", sagt er. Das gute Gefühl zählt. Was danach komme, sei gar nicht so wichtig.

Ist es natürlich doch. Denn für Menschen in Not ist der Unterschied riesig. Loipfinger schätzt, dass etwa 20 Prozent der Organisationen unmoralisch handeln. Nicht kriminell, denn es gehört zum Charakter einer Spende, dass nie eine Gegenleistung eingefordert werden darf. Deshalb ist es auch kein Unrecht, wenn von 100 gespendeten Euro nur zehn bei hungernden Kindern landen und 90 in den Taschen eines gut gesättigten Spendensammlers. Ebenfalls erlaubt: Wenn Organisationen Bettelbriefe verschicken und jemand daraufhin zehn Euro spendet, wird dieser als "emotional empfänglich" gespeichert. Datenschutz? Gibt es nicht. "Wer also auf Bettelbriefe reagiert und beispielsweise zwölf Mal im Jahr zehn Euro spendet, kann sich sicher sein, dass seine gesamten 120 Euro in Porto für neue Bettelbriefe draufgehen", sagt Loipfinger.

Deshalb tut gut daran, wer vor einer Spende ausführlich darüber nachdenkt, was er unterstützen und erreichen möchte - und seine Emotionen unter Kontrolle hat. Sich dann nach einer Spende besser zu fühlen, ist keineswegs verwerflich. Vor allem mit der Gewissheit, an den Richtigen gespendet zu haben.

© SZ vom 22.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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