Studie zu Übergriffen auf Ärzte:Angst vorm Hausbesuch

Hausarztpraxis

Mehr als hoher Blutdruck: Immer wieder werden Mediziner bei Hausbesuchen während des Bereitschaftsdienstes von erregten Patienten angegriffen

(Foto: dpa)

Wenn der Patient ausrastet: Mehr als 90 Prozent der Mediziner haben schon Aggressionen erlebt, zeigt eine Studie der TU München. Hausärzte werden im Dienst angegriffen - von Bedrohungen mit dem Messer bis zur versuchten Vergewaltigung kommt alles vor.

Von Dietrich Mittler

Das erste Gewalterlebnis im nächtlichen Einsatz wird Hausarzt Florian Vorderwülbecke wohl nie vergessen: Ein ihm unbekannter Patient bedrohte ihn plötzlich mit dem Messer. Vorderwülbecke sagt, er habe von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt: "Ich sollte nachts einen Mann aufsuchen, der gleich mehrere Drogen wild durcheinander einnahm", erzählt er.

Er fuhr also hin, klingelte an der Tür. "Der Raum war voller Rauchschwaden, es brannten nur drei Kerzen, und ich erblickte im Halbdunkel vier, fünf Gestalten - ein mulmiges Gefühl", sagt der 46-Jährige. Der Patient, den er versorgen sollte, habe unbedingt mitten in der Nacht einen Entzugsplatz haben wollen. Und wenn das nicht sofort gehe, dann müsse er eben "ein bisschen eigen- oder fremdgefährdend werden". Nach diesen Worten habe der Mann ein Messer gezogen. Nur mit Mühe habe er sich schließlich beruhigen lassen. "Aber viel hat nicht gefehlt . . .", sagt der Arzt.

Nur knapp einer Vergewaltigung entgangen

Die Attacke vor fünf Jahren blieb nicht ohne Folgen. Vorderwülbecke wurde sensibilisiert für ein Thema, das nicht nur ihn betrifft. Bei einem Seminar über Aggression und Gewalt gegen Hausärzte, in dem er Kolleginnen und Kollegen Tipps an die Hand geben wollte, berichtete ihm eine Ärztin aus Niederbayern, sie sei bei einem nächtlichen Hausbesuch nur knapp einer Vergewaltigung entgangen.

Der Bericht der Kollegin gab wohl mit den letzten Anstoß für eine wissenschaftliche Studie unter dem Dach der Technischen Universität München, deren Ergebnisse Vorderwülbecke mit Kollegen demnächst in einem Fachblatt veröffentlichen will. Auf einem Kongress bereits vorgelegte Ergebnisse der deutschlandweiten Befragung sind frappierend: "Mehr als 90 Prozent der befragten Hausärztinnen und Hausärzte haben Aggressionen erlebt", sagt er, "und jeder vierte Hausarzt hat schon einen schweren Zwischenfall - also eine körperliche Attacke, womöglich gar mit Gegenständen oder Waffen - erlebt."

60 Prozent der Berufsanfänger sind Frauen

Das bleibt nicht ohne Folgen. Insbesondere unter den Ärztinnen, die nach den Ergebnissen der Studie geringfügig häufiger mit Aggressionen konfrontiert werden als ihre männlichen Kollegen, macht sich Angst breit: "Nur eine von drei Frauen fühlt sich bei Hausbesuchen im Bereitschaftsdienst sicher", sagt Vorderwülbecke. Welche Dimension das für Bayern hat, machen die jüngsten Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) deutlich: Im Freistaat sind derzeit rund 3400 Hausärztinnen tätig. Nach Erkenntnissen des Gesundheitsministeriums in München sind mittlerweile 60 Prozent der Berufsanfänger in der Medizin weiblich.

Wie in internationalen Studien herausgearbeitet wurde, gibt es ein fachgruppenspezifisches Risiko. Gefährdet sind demnach in erster Linie Psychiater, Nervenärzte, Psychotherapeuten - aber eben auch Hausärzte. Letztere erlebten Hausbesuche bei Fremden, wie sie nun einmal häufig vorkommen, vor allem dann als potenziell bedrohlich, wenn sie an sozialen Brennpunkten stattfinden, oder bei Suchtkranken. Doch Florian Vorderwülbecke hat eine andere Erfahrung gemacht: "Mein erstes Gewalterlebnis als Arzt war in Taufkirchen bei München, also bei weitem nicht in der Bronx."

Drohungen im Internet

Dass Ärzte auch in Altenheimen plötzlich zum Opfer werden, weiß Vorderwülbecke spätestens, seitdem eine demente Patientin mit einem Lineal auf ihn einschlug, um sein Telefongespräch mit den Angehörigen zu beenden. "Da sind letztlich alle hilflos, auch die dabei stehenden Pflegekräfte, denn man will ja den alten kranken Menschen - selbst wenn sie fremdgefährdend sind - nicht wehtun", sagt er. Zum Glück sind die harten Attacken noch in der Minderzahl. Doch auch andere Aggressionserlebnisse sind alles andere als angenehm, etwa "wenn man die ganze Behandlung über einem knurrenden Kampfhund gegenübersitzt, der sein Herrchen verteidigen will", wie Vorderwülbecke sagt.

Häufig sehen sich Ärzte mit Drohungen konfrontiert, so etwa im Sinne von: "In diesem Dorf kriegen Sie keinen Fuß mehr auf den Boden." Und ähnliches mehr. "Derzeit ist es in, Ärzte im Internet fertig zu machen", sagt Vorderwülbecke. Dagegen könne sich ein Arzt nur schwer wehren. Besser schützen könne man sich vor körperlichen Attacken: Vor allem Ärztinnen sollten die Möglichkeit bekommen, Hausbesuche in Begleitung vornehmen zu können - etwa durch einen Fahrer. "Die Zeiten, in denen so ein Brackl von Hausarzt die Hausbesuche gemacht hat, sind einfach vorbei", sagt Vorderwülbecke.

Bereitschaft

Wenn die Arztpraxen bereits geschlossen haben oder feiertagsbedingt gar nicht erst geöffnet hatten, können Patienten kostenlos unter 116 117 anrufen. In Bayern erreichen sie unter dieser Nummer den Servicedienst der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB), der den nächsten diensthabenden Arzt ermittelt. Der kommt, wenn der Patient keine Fahrmöglichkeit hat oder bettlägerig ist, auch ins Haus. Bislang nahmen den Bereitschaftsdienst hauptsächlich Haus- und Fachärzte wahr, die mit der Akutbehandlung vertraut sind. Künftig müssen auch andere Arztgruppen, etwa Psychotherapeuten, Pathologen oder Genmediziner, in Bayern am Bereitschaftsdienst teilnehmen. Dagegen gab es Widerstand. Am Samstag wurde auf der Vertreterversammlung der KVB ein Kompromiss angeboten. Demnach könnten Patenärzte ihre sich unsicher fühlenden Kollegen eine Zeitlang begleiten. Wer gar keinen Bereitschaftsdienst leisten wolle, soll in Zukunft auf einen Pool zurückgreifen können, aus dem ein Kollege den Dienst gegen Geld übernimmt. dm

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