Seuchenschutz:Die Ratten kommen

Wanderratte

Rattus norvegicus - die Wanderratte - ist heute in den Städten weit verbreitet. Die kleinere Hausratte (Rattus rattus) spielt zumindest im urbanen Raum eine kleinere Rolle.

(Foto: Jean-Jacques Boujot, CC by 2.0)

Zigtausende Nager leben in Städten - und können Dutzende Krankheitserreger übertragen. Doch die Ratten, die lange Zeit als Inbegriff hygienischer Katastrophen galten, sind heute ein blinder Fleck der Seuchenkontrolle. Und sie könnten bald noch deutlich mehr werden.

Von Berit Uhlmann

Unzählbar viele Stadtbewohner tragen den Namen Norvegicus. Rattus norvegicus. Sie balancieren über Bahngleise, durchstöbern Parks. Von ihren menschlichen Mitbürgern weiß keiner genau, wie viele der Nager in den urbanen Räumen leben, welche Keime und Parasiten sie tragen. Die Ratte, seit Jahrhunderten Inbegriff hygienischer Katastrophen, ist heute eine Art blinder Fleck der Epidemiologie. "Wir wissen alles über die Antilope, aber nicht, was vor unserer Haustür passiert", klagen Biologen.

Das Zählen, Fangen und Untersuchen von Ratten bringt wenig Prestige - am wenigsten den Gemeinden. Eine Kommune, die offensiv über Rattenbekämpfung spricht, werde zwangsläufig als ein Ort mit "sehr viel Müll, Dreck und Unrat" wahrgenommen, klagt das niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und legt schaurige Fakten nach: Rein rechnerisch könne eine weibliche Wanderratte in einem Jahr 1952 Kinder und Kindeskinder hervorbringen. In der Realität seien es immerhin noch 500 Nachkommen.

Niedersachsen und Hamburg haben, anders als der Rest Deutschlands, eine Rattenverordnung. Wer an der Alster eine Ratte entlanghuschen sieht, ist verpflichtet, die Behörden zu informieren. "Pro Jahr gibt es etwa 780 bis 1200 Meldungen", sagt Anita Plenge-Bönig, Epidemiologin am Hamburger Institut für Hygiene und Umwelt.

Dem Ratten-Monitoring im Norden verdankt die Wissenschaft eine Vorstellung davon, welche Gesundheitsgefahren von den Nagern ausgehen. Bei Untersuchungen an 500 Ratten aus Hamburg und Niedersachsen wurden in jeder vierten Probe Erreger entdeckt. Am häufigsten fanden sich Leptospiren, Bakterien, die Leber- und Nierenversagen auslösen können. In der Praxis scheinen die Keime aber derzeit kein großes Problem zu sein. "In Hamburg gibt es pro Jahr zwischen null und vier Erkrankungen mit diesen Erregern, dabei ist nicht klar, ob Ratten die Infektionsquelle waren", sagt Plenge-Bönig.

Anderswo ist die Sorge größer. Als New Yorker Forscher 133 Ratten untersuchten, fanden sie ebenfalls Leptospiren, aber auch das Hantavirus, das wie Ebola hämorrhagisches Fieber auslösen kann, sowie Salmonellen und Kolibakterien - insgesamt 20 verschiedene Keime. Hinzu kamen 18 Verwandte pathogener Mikroben, die man noch gar nicht kannte. "Ein Rezept für einen Gesundheits-Albtraum" sagte der Chef der Gesundheitsorganisation EcoHealth Alliance in der New York Times.

Multiresistente Keime in Ratten

In Berlin hat Sebastian Günther, Mikrobiologe der Freien Universität, Ratten-Fäkalien untersucht und viele resistente Kolibakterien darin entdeckt. 26 Prozent der Proben waren gegen mindestens ein Antibiotikum unempfindlich, fast 14 Prozent gegen mindestens drei Klassen von Antibiotika. Damit tragen die Ratten etwa doppelt so viele multiresistente Keime in sich wie der Durchschnittseuropäer. Günther vermutet, dass die Tiere die Keime in der Kanalisation aufnehmen, vor allem über Krankenhausabwässer.

So können die Erreger dann wieder zum Menschen gelangen. Bisse muss man eher nicht befürchten: Die Vorstellung, Ratten würden Menschen angreifen, ist abwegig. Ratten übertragen Keime in erster Linie durch ihre Ausscheidungen, die Lebensmittel und Badegewässer kontaminieren oder in Form feiner Stäube eingeatmet werden können.

Es ist gut möglich, dass sich Stadtbewohner in Zukunft häufiger mit diesen Fakten auseinandersetzen müssen. Die Städte wachsen, und sie bieten den Tieren bequemen Lebensraum. Der Mensch betrachtet die Ratten ja gerne als Plage, die aus unerfindlichen Gründen über ihn hereinbricht, und vergisst, wie üppig er sie füttert. Mit Fastfood-Überbleibseln, die in Büsche und Straßenecken geworfen werden, mit Speiseresten auf dem Komposthaufen und großzügig ausgestreutem Vogelfutter lockt er die Tiere in seine Nähe.

Zugleich sind Ratten immer schwerer zu bekämpfen. Derzeit wird ein Teil der Gifte vom Markt genommen. Moderne Rattengifte lassen die Tiere nicht tot neben dem Köder umkippen, sondern langsam innerlich verbluten, damit Artgenossen die Falle nicht erkennen. Diesen Tod wünscht man schon einer Ratte kaum. Weil an den Giften auch andere Tiere qualvoll verenden, wurde der Einsatz eingeschränkt. Nur noch professionelle Schädlingsbekämpfer oder andere geschulte Personen dürfen die heftigen Mittel anwenden. Zumal Ratten gegen die Substanzen resistent werden können. Das ist kein flächendeckendes Problem, doch in einzelnen Gebieten Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens vertragen 80 Prozent der Ratten die Gifte.

All das trägt dazu bei, dass die Wissenschaft sich zunehmend für die Ratte interessiert. Erste bundesweite Monitoring-Programme und Studien haben begonnen. Sie könnten auch unerwarteten Nutzen bringen. Als Forscher in New York Rattenkeime analysierten, fanden sie eine neue Variante des Hepatitis-C-Virus. Rattus norvegicus könnte aus diesem Grund zu einem neuen Tiermodell für die Hepatitis-Forschung werden.

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