Manipulationen bei Medikamententests:Alles - außer Kontrolle

General Images Of Ranbaxy Laboratories Ltd. and Wockhardt Ltd. Drugs As U.S Scrutiny Continues

Bei Studien in Indien hat die europäische Arzneimittelagentur EMA zum Teil erhebliche Mängel festgestellt. Hunderte Medikamente könnten betroffen sein. (Symbolbild)

(Foto: Bloomberg)

Alarm in den Apotheken: Zahlreiche Medikamente könnten die Zulassung verlieren, weil Tests in Indien manipuliert wurden. Tricksereien in Schwellenländern haben System.

Von Christian Baars, Christina Berndt und Katja Riedel

Was die Prüfer bei zufälligen Stichproben fanden, sollte ein Schock für die Pharmabranche werden: Die Mitarbeiter der französischen Arzneimittelagentur ANSM hatten sich ins indische Hyderabad aufgemacht. Dort wollten sie sich die Arbeit der Firma GVK Biosciences (GVK Bio) genauer ansehen. Es war eine der seltenen Vor-Ort-Prüfungen, die europäische Arzneimittelzulassungsbehörden in Schwellenländern wie Indien, China oder Brasilien vornehmen. Also in Orten, in denen internationale Pharmakonzerne seit einigen Jahren verstärkt ihre Medikamente an Menschen testen lassen. Doch den Franzosen verging bald die Freude an dem Auslandsbesuch: In allen neun klinischen Studien, die sie unter die Lupe nahmen, fanden sie schwerwiegende Fehler. Und zwar solche, die nicht auf Schlamperei, sondern wohl auf Vorsatz beruhten. Hier hatte offenbar jemand Daten gefälscht, um Studienergebnisse besser aussehen zu lassen.

Besonders beunruhigte die Prüfer, dass GVK Bio kein kleiner Fisch ist. Die Firma gehört zu den größten Auftragsforschungsunternehmen für klinische Studien in Asien. Mit ihr arbeiten zahlreiche internationale Pharmakonzerne zusammen, auch deutsche, um die notwendigen Prüfungen für die Zulassung ihrer Medikamente auf den Weg zu bringen. Weitere Prüfungen durch die Europäische Arzneimittelagentur EMA in Hyderabad bestätigten den Verdacht. Offenbar wurde bei GVK Bio in großem Stil gepfuscht. Mitunter sollen auch Ergebnisse aktiv gefälscht worden sein.

Die systematische Natur der Fälschungen, die ausgedehnte Zeitperiode, in der sie stattfanden, und die Zahl der Mitarbeiter, die involviert sind, alarmierten Sabine Jülicher, die Abteilungsleiterin in der Europäischen Kommission ist, zuständig für Zulassung von Arzneimitteln. Die Mängel in den Studien der GVK-Bio-Klinik in Hyderabad seien so massiv, notierte sie in einem Schreiben an den EMA-Ausschuss für Humanmedizin, dass "alle anderen Bioäquivalenzstudien, die dort vorgenommen wurden", nun infrage stehen. Insgesamt hätten mindestens zehn Mitarbeiter oft nach demselben Schema Daten frisiert - und das über Jahre. Die EMA untersucht derzeit die Zeit zwischen 2008 und 2014.

Experten beobachten schon lange Tricksereien bei Tests in Schwellenländern

Hunderte Medikamente weltweit könnten von den Unregelmäßigkeiten bei der indischen Firma betroffen sein. Allein in Deutschland sind es nach Informationen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung mehr als hundert Arzneimittelzulassungen, die nun noch einmal kritisch beleuchtet werden müssen. Manche Medikamente müssen womöglich vom Markt genommen werden, andere bedürfen einer neuen Prüfung, ob sie wirklich sicher und wirksam sind.

Bisher geht es nur um Generika, also um Nachahmerprodukte, die nach Ablauf des Patentschutzes eines Wirkstoffes auf den Markt kommen dürfen. Doch die Firma bietet auch Studien für gänzlich neue Medikamente an, ebenfalls in Hyderabad. Der Skandal könnte sich also noch ausweiten.

Eigentlich müssen alle klinischen Prüfungen, die der Zulassung innerhalb der EU dienen, den ethischen und wissenschaftlichen Standards entsprechen, die in Europa gelten. Doch Experten gehen schon lange davon aus, dass Tricksereien bei klinischen Studien in Schwellenländern häufig vorkommen. "Die Versuchung, klinische Prüfungen in Ländern durchzuführen, in denen die Aussagekraft der erhobenen Daten manchmal infrage steht, ist groß", sagte der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, Karl Broich, vor kurzem der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Es fehle derzeit an Inspektoren. Gerade werden jedoch europäische Teams aufgestellt, um möglichen Betrügereien künftig häufiger auf die Schliche zu kommen. Verstöße könnten dazu führen, dass die Daten im Zulassungsverfahren nicht mehr akzeptiert würden, hat die Bundesregierung Ende 2012 in einer Antwort an die Fraktion der Linken im Bundestag geschrieben. Immerhin: Die gemeinsame Aktion von EMA und nationalen Behörden wie im Fall GVK Bio ist in Europa bisher einzigartig.

Doch die neuen Kontrollen werden nicht einfach sein. Denn der Trend, medizinische Testreihen nach Osteuropa, Asien, Südamerika und Afrika zu verlagern, hält an. Die Organisation Wemos Foundation schätzt, dass jährlich etwa 20 000 Medikamente in Schwellenländern getestet werden. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen sparen Pharmafirmen bei ihren Tests in Ländern mit einer weniger wohlhabenden Bevölkerung eine Menge Geld. Zum anderen finden sie dort für eine oft geringe Aufwandsentschädigung viele willige Testpersonen.

Mitunter verschweigen Testpersonen einfach unangenehme Nebenwirkungen

Anders ist das in der EU und in den USA. Dort ist die Bereitschaft, an womöglich gefährlichen Versuchen teilzunehmen, geringer geworden. Denn dort ist niemand auf Testmedikamente angewiesen, um bei einer Krankheit behandelt zu werden. In Indien dagegen haben die Versuchsteilnehmer oft nur die Wahl, entweder überhaupt keine Arznei zu bekommen - oder eben das Versuchspräparat. Und weil schlecht bezahlte Ärzte sich mit der Betreuung eines solchen Versuchs Jahresgehälter hinzuverdienen können, hat es zuletzt immer wieder Fälle gegeben, bei denen Patienten oder deren Angehörige später beklagten, sie seien nicht über den Versuchscharakter ihrer Behandlung aufgeklärt worden.

Ethisch sind Versuche an Menschen oft heikel. Doch zur Entwicklung neuer Präparate gegen schwere Krankheiten sind sie unverzichtbar. Der Weltärztebund hat sich darum ein festes Regelwerk verordnet: Ethische Fragen regelt die Deklaration von Helsinki, die 1964 verabschiedet und zuletzt 2013 überarbeitet wurde. Versuchsteilnehmer müssen danach schriftlich zustimmen, dass sie über den Inhalt der Tests informiert wurden. Doch viele können weder lesen noch schreiben - und sind einfach nur froh, medizinische Hilfe zu bekommen.

Suche der Pharmaindustrie nach den "Drug naives"

Zu den Helsinki-Regularien gehört auch, dass die Gesellschaft, in der die Medikamente getestet werden, später von deren Nutzen profitieren sollte. Deshalb werden die Medikamente auch für diese Märkte zugelassen - sind aber meist zu teuer, als dass die Versuchsteilnehmer in einem Schwellenland sie sich nach Ende des Tests leisten könnten. Mancher ist darum darauf angewiesen, erneut ein Medikament zu testen. Darum kommt es vor, dass Testpersonen Nebenwirkungen verschweigen oder eine Arznei heimlich absetzen. Das Ergebnis der Studie wird so verfälscht.

Schlechte Bedingungen bringen auch ansonsten schlechte Ergebnisse: Widrige Lebensumstände, andere Ernährungsgewohnheiten, ethnische Unterschiede - das alles wirkt sich darauf aus, wie der menschliche Körper ein Arzneimittel aufnimmt und verträgt. Bei einem 60 Jahre alten Deutschen, der neben seinem Blutdrucksenker noch ein Schmerzmittel und ein Antirheumatikum nimmt, kann ein Arzneimittel anders wirken als bei einer 30 Jahre alten Inderin. Denn die ist das, was die Pharmaindustrie sucht: "Drug naive". Sie hat in ihrem Leben noch kaum Pillen geschluckt.

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