360° Europas Flüchtlingsdrama:So ist "Der Zaun" entstanden

Wie fühlt sich die "Festung Europa" von außen an? Wie leben Flüchtlinge? Drei Monate sind zwei Journalisten an den Grenzen Europas entlanggereist und berichten davon in einer großen Multimediareportage. Dazu ein 360° - das ganze Bild des europäischen Flüchtlingsdramas.

Von Dietmar Telser und Sebastian Gierke

Das Thema Flucht ist vielleicht das wichtigste globale Thema des zu Ende gehenden Jahres 2014. Vor allem aufgrund internationaler und nationaler Krisen, aufgrund von Kriegen und Naturkatastrophen waren Millionen Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Viele wollten nach Europa. Viele wollen nach Europa.

Zwei deutsche Journalisten sind drei Monate lang an den außereuropäischen Grenzen entlanggereist und haben aus dem, was sie auf dieser Reise erlebt haben, eine große Multimediareportage gemacht, die wir in dieser Woche in sechs Teilen auf Süddeutsche.de präsentieren werden: Der Zaun.

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360° - Geschichten und Hintergründe, die im Nachrichtenalltag oft untergehen.

  • Fünftausend Kilometer Angst

    "Syrer? Papiere? Mitkommen!" Vier Wochen lang sind Sadik und Edis auf der Flucht. Im Gepäck ein Glas Honig gegen Heimweh - und Angst vor Assads Schergen. Die Brüder wollen nach Deutschland. Mit dem Zug. Doch plötzlich stehen Polizisten vor Edis. Sadik rührt sich nicht.

Auch innerhalb der SZ-Redaktion haben wir uns mit dem Themenkomplex eingehend beschäftigt, haben recherchiert, Interviews geführt, Zahlen verglichen.

Entstanden ist ein aufwändiges 360° zum Thema Migration und Flüchtlinge, ein Themenschwerpunkt, der sich mit dem europäischen Flüchtlingsdrama in vielen verschiedenen Facetten befasst. Wir blicken von außerhalb Europas und von innerhalb der europäischen Grenzen und Deutschlands darauf. Analysen und Interviews, Reportagen und Essays, Datenprojekte und Kommentare: Jeden Tag der kommenden Woche werden wir mehrere Stücke veröffentlichen und hoffen, Ihnen dabei das ganze Bild dieses wichtigen Themenkomplexes vermitteln zu können.

Wie die Multimediereportage "Der Zaun" entstanden ist, beschreibt Dietmar Telser, einer der Autoren:

Wie fühlt sich die "Festung Europa" von außen an? Wie leben Flüchtlinge vor den Grenzen? Welche Wege nehmen sie, wie reagieren Grenzpolizisten darauf? Wir wollten wissen, was sich entlang der europäischen Außengrenzen abspielt. Mit Rucksack, Kamera, Aufnahmegerät und jeder Menge Notizblöcken reisten wir die Grenzen entlang: Bulgarien, Griechenland, Türkei, Italien, Tunesien und Marokko. Drei Monate lang haben wir nichts anderes gemacht, als mit den Menschen zu reden und ihre Geschichten zu notieren, zu fotografieren und zu filmen.

Das Projekt wurde von Beginn an als multimediales Storytelling-Format gedacht. Nicht als Aufbereitung und Zweitverwertung einer Printreportage - wie das Vorgängerprojekt Arabellion - sondern originär als multimediales Erzählstück. Bereits die Storyline bezog Text, Bild, Audio und Video mit ein. Kein Element sollte für sich allein stehen, alle Bereiche sollten sich ergänzen, um so gemeinsam den Sog der Geschichte zu entwickeln.

Die einzelnen Abschnitte wurden in einem Storyboard während der Recherche ausgearbeitet. Der Texter verantwortete gleichzeitig den Ton, der Fotograf Video. Eine enge Absprache, ein ständiges Überdenken und ein Diskutieren der Erzählstruktur sind bereits im Entstehungsprozess erforderlich: Text reagiert auf Bild, Bild auf Text, Audio auf Bild.

Die größte Herausforderung ist die Reduzierung - das Streichen aus der Fülle an Material von Audioaufnahmen, Bildern, Videos und Text. Eine solch umfangreiche Geschichte benötigt eine ruhige Erzählweise. Die einzelnen Elemente sollten möglichst wenig miteinander konkurrieren. Denn das ist das Verführerische - noch viel mehr als bei einer klassischen Reportage: alle Geschichten erzählen zu wollen, alle Bilder zu zeigen, zusätzliche Effekte einzubauen und dabei die eigentliche Dramaturgie aus den Augen zu verlieren.

Die Struktur der Geschichte

Zwei Kategorien sollen der Geschichte Struktur verschaffen: Die Kapiteleinteilung in Ländern soll eine Orientierung ermöglichen. Die Abschnitte erzählen etwa vom Aufbruch (Türkei), vom Warten (Melilla), vom Sterben (Italien). Gleichzeitig konzentriert sich jedes Land/Kapitel auf einen bestimmten Aspekt der Flüchtlingsdebatten. Push-backs in Griechenland, die Rettungsoperationen in Italien, der Umgang mit dem Sterben auf See in Tunesien, die Planung der Flüchtlingsreisen in Istanbul. Alle Texte sind darüber hinaus miteinander verknüpft, zwangsläufig, da jede verstärkte nationalstaatliche Grenzsicherung immer auch Auswirkungen auf Flüchtlingsrouten und Nachbarländer hat: Menschen, die vor Kriegen flüchten, so haben wir bei unseren Recherchen erfahren, lassen sich nicht stoppen, Routen können nur verschoben werden.

Die Geschichte sollte - unser zweites Hauptaugenmerk - auch auf allen Browsern und in mobiler Darstellung diese Ruhe beibehalten. Deshalb beschränkt sie sich auf vergleichsweise wenige Elemente und einen zurückhaltenden Wechsel zwischen Text, Audioaufnahmen und großformatigen Bildern.

Die Autoren:

Dietmar Telser ist Politikredakteur der Koblenzer Rhein-Zeitung und nahm für dieses Projekt eine Auszeit, Benjamin Stöß ist freiberuflicher Bildjournalist in Köln, Thorsten Schneiders (Koblenz) arbeitet als Webentwickler. Unterstützt wurde die Recherche durch Crowdfunding (Plattform visionbakery.de) und Süddeutsche.de.

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