Bürgerkrieg in Syrien:"Das Internet wird als Kriegswaffe eingesetzt"

In Syrien sind seit Beginn des Bürgerkrieges mehr als 190 000 Menschen gestorben. Eine Forscherin hat nun Hinweise darauf gefunden, wie systematisch das Regime den Zugang ins Internet auszunutzen scheint, um Aktivisten zu finden und zu töten.

Von Hakan Tanriverdi

Mit dem Jubel kam die Unsicherheit in die Schlagzeilen: "Syrien entsperrt Facebook und Youtube". Eine gute Nachricht, dachte man damals, da das Regime sich anscheinend dazu entschlossen hatte, der eigenen Bevölkerung die Kommunikation zu erleichtern - und das zu einer Zeit, in der alles möglich schien und in benachbarten Ländern Regierungen entmachtet wurden.

Anita Gohdes war eine der Personen, die skeptisch blieben: "Warum sollte ausgerechnet Syrien das machen?", sagt sie heute. Gohdes arbeitet bei der Human Rights Data Analysis Group (HRDAG), die im Auftrag der Vereinten Nationen erforscht, wie viele Menschen in Syrien getötet werden. Syrien gilt seit Jahrzehnten als Land, das sehr genau kontrolliert, was die eigene Bevölkerung mitbekommen darf und was nicht. In Pressefreiheit-Rankings bekam das Land zu dieser Zeit 83 von 100 Punkten, wobei 100 für Unfreiheit steht. Gohdes vermutete hinter dem Schritt, das Internet für alle zu öffnen, politisches Kalkül und entschloss sich dazu, ihre Doktorarbeit über dieses Thema zu schreiben.

Folter für Passwörter

Im syrischen Bürgerkrieg nutzen Rebellengruppen den Zugang ins Netz nicht nur zur Kommunikation und um sich zu Demonstrationen zu verabreden, sondern auch dafür, per Blick auf Google Maps die Ziele für Raketenangriffe zu kalibrieren. Ohne Internet fehlt es an Genauigkeit.

Das Regime hingegen greift die Separatisten auch auf technischer Ebene an. Es ist zum Beispiel bekannt, dass Überwachungssoftware der amerikanischen Firma Bluecoat und der deutschen Firma Utimaco in Syrien gefunden wurde. Ebenfalls weiß man, dass das Regime über so genannte "Man in the Middle"-Attacken (MITM) die Passwörter von Facebook-Nutzern abgefangen hat und so ihre Kommunikation ausspähen konnte. Bei MITM-Angriffen können Unbefugte den Verbindungsaufbau zwischen Computer und Webseite abfangen - und somit den Datenverkehr einsehen; zum Beispiel, woher diese Anfrage gesendet wird. Aktivisten sollen auch unter Folter dazu gezwungen worden sein, ihre Passwörter preiszugeben.

Gohdes hat 60 000 Fälle analysiert

Heute, knapp zwei Jahre und 60 000 analysierte Fälle später, ist sich Gohdes sicher, dass das syrische Regime seinen Kontrollanspruch ausgeweitet hat: "Regierungen sind seit Jahrtausenden gut darin, Infrastruktur als Kampfmittel zu benutzen", sagt sie. Strom werde abgestellt und Straßen blockiert, um Menschen auszuhungern. "In Syrien sehen wir nun, dass auch das Internet als Kriegswaffe eingesetzt wird", sagt Gohdes. Die Zahlen, die ihr vorliegen, zeigen, wie man sich das vorstellen muss: "Meine Schätzungen machen klar: Ungefähr eine von vier Personen, die getötet wurden, war Opfer eines gezielten Angriffs". Die Zahl liege in Gegenden ohne Internet bei eins zu zehn und sei damit deutlich geringer.

Das heißt: Wenn Orte Netzanschluss haben, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Aktivisten gezielt verfolgt und dann umgebracht werden. Wenn der Netzzugang jedoch geblockt wird, ist das ein Indiz dafür, dass dieser Ort angegriffen wird, zum Beispiel durch den Abwurf von Fassbomben. Das Resultat: Die Todeszahlen insgesamt steigen. "Das Thema Überwachung ist sehr abstrakt. Mit meiner Forschung wollte ich zeigen, wie sie sich auswirkt", sagt Gohdes.

Strategie der Enttarnung und Kontrolle

Ob eine Regierung es zulässt, dass die Bürger im Netz frei diskutieren dürfen, ist für autoritäre Staaten und Diktaturen eine Sache der Abwägung. In einer Harvard-Studie über China wurde analysiert, wann und wie genau in den dortigen sozialen Netzwerken Zensur ausgeübt wird. Das Ergebnis: Kritik an sich wird nicht automatisch geblockt. Erst ab dem Moment, in dem es um "collective action" geht, also wenn eine Masse zum Handeln aufgefordert wird, setzt die Totalzensur ein - und zwar unabhängig davon, ob die einzelnen Wortmeldungen positiv oder negativ ausfallen.

"Wenn eine Regierung zu viel zensiert, verliert sie selbst den Überblick darüber, über was in der Bevölkerung geredet wird", sagt Gohdes. "Ein Netzwerk wie Facebook erlaubt es der Regierung hingegen herauszufinden, wo der Feind sitzt." Wenn eine Regierung sich dazu entscheidet, den Zugang zu Facebook zu ermöglichen, sei die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zur Strategie des Regimes gehöre, Aktivisten zu enttarnen und die Gesellschaft zu kontrollieren.

Mindestens 191 369 Menschen sind gestorben

Für ihre Forschung hat Gohdes zwei Datensätze vereint. Da sind zum einen die Daten, die sie für die HRDAG ohnehin auswertet. Sie kommen von mehreren Aktivistengruppen und Forschungseinrichtungen, die sich mit dem Bürgerkrieg in Syrien befassen. Darunter das Violation Documentation Center und das Syrian Network for Human Rights. "Diese Gruppen leisten phänomenale Arbeit", sagt Gohdes. Menschenrechtsgruppen vor Ort halten die Daten fest und leiten sie weiter: Datum, Name, Sterbeort, Geschlecht der Toten werden unter anderem erfasst. Das große Problem sei es, Duplikate innerhalb der Listen und zwischen den Listen zu erkennen. Am Ende steht eine Gesamtzahl: Mindestens 191 369 eindeutig identifizierbare Menschen sind in diesem Konflikt gestorben. Die Zahl dürfte höher liegen, da nicht alle Todesfälle von Aktivistengruppen aufgeklärt werden können.

Der zweite Datensatz kommt vom Syrian Digital Security Monitor, ein Projekt der in Kanada ansässigen SecDev Foundation, die Menschen in Krisenregionen darüber aufklären will, wie sie ihre Kommunikation abhörsicher machen. Die Organisation habe über die Dauer von neun Monaten Daten darüber gesammelt, ob und in welchen Gebieten Syriens es Internetzugang gab, zwischen Juni 2013 und April 2014. In diesem Zeitraum wurden 60 000 Menschen getötet. Es sind diese Fälle, die Gohdes analysiert hat.

100 Tote während einer Blockade

Ergeben sich aus diesen Daten Hinweise darauf, dass die Menschen hingerichtet wurden, handelt es sich um zielgerichtete Gewalt. "Es sind Fälle, in denen Leute singulär ausgewählt wurden. Zum Beispiel Deserteure, die nach ihrer Flucht auf Tötungslisten stehen. Manchmal heißt es aber in den Berichten aber auch, dass fünf Leute in einem Feld gefunden wurden, die Hände geknebelt", sagt Gohdes. Es sind also Hinrichtungen - im Gegensatz zu Leichen, die aus zerbombten Häusern geborgen werden.

"Wenn man sich die Zeitreihen anschaut und markiert, wann das Internet ausgeschaltet ist, sieht man es ganz krass. In Hama zum Beispiel sind die Todeszahlen viel höher, sobald der Zugang geblockt wird", sagt Gohdes. Anfang Juni 2013 wurden während so einer Blockade mehr als 100 Menschen getötet.

Die Befunde von Gohdes sind keine Kausalerklärung, das geben die Daten nicht her, sie sind aber durchaus ein Indikator auf die Strategie des syrischen Regimes. Wer Gegner komplett ausschalten will, stellt den Zugang ins Netz ab und startet eigene Angriffe. Wer ein Netzwerk infiltrieren will, findet Aktivisten und foltert sie, um an Passwörter zu kommen - und greift dann deren Netzwerk an. In beiden Fällen übernimmt das Internet die gleiche Funktion - es wird zur Kriegswaffe.

Linktipp: Anita Gohdes hat ihre Forschung im Rahmen des Hackerkongresses 31c3 präsentiert. Eine Aufzeichnung davon finden Sie hier.

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