Deutsches Verhältnis zum Holocaust:Die Schlussstrich-Befürworter

Schienen nach Auschwitz-Birkenau

Blick auf die Schienen, die auf das Tor des KZ Auschwitz-Birkenau zulaufen.

(Foto: Getty Images)
  • Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung sagt: 81 Prozent der Deutschen möchten die Geschichte der Judenverfolgung "hinter sich lassen".
  • Gleichzeitig wächst das Interesse am Holocaust. Bücher über die Schoah verkaufen sich millionenfach.
  • Die Israelis sehen die Deutschen so positiv wie nie - 68 Prozent haben eine gute Meinung vom einstigen "Land der Täter".

Von Matthias Drobinski

Auschwitz. Kein Ort ist so zum Symbol des Judenmords geworden, zum Inbegriff der Hölle auf Erden. An diesem Dienstag ist es 70 Jahre her, dass die Rote Armee das Vernichtungslager befreite. Überall in Deutschland wird des Tages gedacht werden - und dann kommt die Bertelsmann-Stiftung und stört. 81 Prozent der Deutschen möchten die Geschichte der Judenverfolgung "hinter sich lassen", sagt nun eine Studie der Stiftung. 58 Prozent möchten definitiv einen "Schlussstrich" ziehen. Weil die Studie, über die zuerst die Bild am Sonntag berichtete, auch darüber geht, was Deutsche und Israelis übereinander denken, gibt es die Zahlen auch für Israel. Dort wollen nur 22 Prozent mit der Vergangenheit abschließen.

Die Deutschen, ein Volk der Geschichtsverdränger? Stephan Vopel, der Autor der Studie, sagt, die Zahlen hätten ihn nicht überrascht, "sie sind seit mehr als 20 Jahren stabil". Schon 1991 und 2007 hatte die Bertelsmann-Stiftung die gleiche Untersuchung in Auftrag gegeben - 1991 lag die Zahl der "Schlussstrich"-Befürworter gar bei 60 Prozent. Deutlich zugenommen hat seitdem die Zahl derer, die meinen, die Schoah sei auf jeden Fall für die Gegenwart relevant: von 20 auf 38 Prozent.

Forderung nach Schlussstrich unter böse Vergangenheit

So steht das Ergebnis der Befragung eher für die Ambivalenz, mit der die Deutschen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit begegnen: Dass "Auschwitz" nie wieder geschehen dürfe, ist die Basis des Grundgesetzes und das zivilreligiöse Glaubensbekenntnis der Bundesrepublik, nicht nur für die politische Elite. Zugleich zieht sich die Forderung, dass nun einmal Schluss sein müsse mit der bösen Vergangenheit, durch die Geschichte der Republik: Schon 1949 forderte die damals ziemlich nationalistische FDP auf Plakaten: "Schlussstrich drunter!" - unter die "Entnazifizierung, Entrechtung, Entmündigung" der Deutschen.

Die Psychologen Margarete und Alexander Mitscherlich erklärten 1967 mit dieser Spannung aus der Erkenntnis des Verbrechens und der Abwehr der Frage, was das mit einem selber zu tun habe, die Unfähigkeit der Deutschen zur Trauer über das Geschehene. Auch heute, so viele Filme, Bücher, Gedenktage später, scheint diese Spannung nicht aufhebbar zu sein: In Auschwitz wie im ehemaligen KZ Dachau steigen die Besucherzahlen, Bücher über die Schoah verkaufen sich millionenfach - und ein guter Teil der ergriffenen Leser wünscht sich offenbar zugleich, dass es jetzt genug sei mit dem Erinnern.

Was sich tatsächlich geändert hat

So spricht einiges für Vopels These, dass sich hier eine der Konstanten deutscher Befindlichkeit zeigt, die sich naheliegender Weise nicht mit der in Israel deckt, wo die Erinnerung an den Judenmord ebenfalls Grundlage der Staatsräson ist. Was sich tatsächlich geändert hat: Die Israelis sehen die Deutschen so positiv wie nie - 68 Prozent haben eine gute Meinung vom einstigen "Land der Täter". In Deutschland dagegen haben nur 36 Prozent eine gute Meinung von Israel, 2007 waren es noch 57 Prozent. Der Nahost-Konflikt hat seine Spuren hinterlassen. Für Vopel steckt hinter der Dissonanz aber auch, dass beide Länder unterschiedliche Lehren aus dem Judenmord gezogen hätten: "Für Israelis heißt sie: nie wieder Opfer sein. Für Deutsche dagegen: nie wieder Krieg. Das prallt hier aufeinander."

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