Bundeskanzlerin zum Holocaust-Gedenken:"Auschwitz fordert uns täglich heraus"

Auschwitz-Gedenkfeier

"Auschwitz geht uns alle an, heute und morgen und nicht nur an Gedenktagen": Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Gedenkfeierzum 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers.

(Foto: AFP)
  • Mit einer zentralen Gedenkfeier des Internationalen Auschwitz-Komitees in Berlin beginnt das weltweite Gedenken an den 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers.
  • Holocaust-Überlebende berichten von der Verschleppung und Ermordung ihrer Familien.
  • Bundeskanzlerin Merkel sagt in einer Rede, Auschwitz stehe für Millionen Einzelschicksale. Das Konzentrationslager sei eine Mahnung, was Menschen anderen Menschen antun könnten.
  • Mit Blick auf die Pegida-Demonstrationen sagte Merkel: "Wir wollen keine hasserfüllten Parolen."

Von Nico Fried, Berlin

Den Zuhörern stockt der Atem, aber Eva Fahidi berichtet mit fester Stimme. Die ungarische Jüdin erzählt von der Verhaftung ihrer Familie in der Heimatstadt Debrecen 1944; von den "angstbeladenenen Momenten des Abschieds", wie sie sagt; von der Hoffnung im Viehwaggon, dass man wenigstens als Familie zusammenbleiben möge; von der Freude der kleinen Schwester Gilike, als sie nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau die Schäferhunde der deutschen Wachleute sieht, die sie an ihren eigenen Schäferhund zu Hause erinnern.

Und dann berichtet Eva Fahidi von der Selektion und dem letzten Moment, in dem sie ihre Schwester und ihre Mutter sah, bevor sie ermordet wurden. "Was mag ihr letzter Gedanke gewesen sein", fragt die Überlebende, die später auch noch ihren Vater verlor.

Eva Fahidi war 18 Jahre alt, als sie ins Konzentrationslager Auschwitz kam. An diesem Tag spricht sie in Berlin über ihre Erinnerungen, die sie auf einigen Blättern vor sich hält, hinter ihr ein großes Foto vom Tor des Vernichtungslagers Birkenau, durch das sie und ihre Familie damals fuhren. "Uns selbst ist der Tod schon nahe, aber wir können noch immer den unwürdigen Tod unserer Familien nicht vergessen", sagt Fahidi.

"Die Zeit heilt nichts, sie vertieft nur das Gefühl der Ermangelung." Fahidis Rede ist ein bewegender Auftritt in dieser zentralen Gedenkfeier des Internationalen Auschwitz-Komitees zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers durch die Rote Armee.

Merkel: "Auschwitz geht uns alle an, heute und morgen"

Die Veranstaltung ist der offizielle Auftakt für das Gedenken in aller Welt. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt in ihrer Rede, Auschwitz stehe für Millionen Einzelschicksale. "Und jedes Schicksal steht für sich." Mehr als eine Million Menschen wurden in Auschwitz ermordet. Auschwitz sei eine Mahnung, was Menschen anderen Menschen antun könnten.

"Was geschehen ist, erfüllt uns mit großer Scham", so die Bundeskanzlerin. "Wir dürfen nicht vergessen, das sind wir den Millionen Opfern schuldig, und das sind wir uns selbst schuldig", sagt Merkel. "Auschwitz fordert uns täglich heraus, unser Miteinander nach Maßstäben der Menschlichkeit zu gestalten." Die Erinnerung an die Verbrechen sei Verpflichtung, so Merkel. "Auschwitz geht uns alle an, heute und morgen und nicht nur an Gedenktagen."

Merkel würdigt das Engagement junger Menschen für die Erinnerung. Und sie zeigt sich erfreut, dass heute wieder mehr als 100 000 Juden in Deutschland leben. Zugleich sei es "eine Schande, dass Menschen bedroht und angepöbelt werden, wenn sie sich irgendwie als Juden zu erkennen geben oder für den Staat Israel Partei ergreifen", so die Kanzlerin.

"Wir wollen keine hasserfüllten Parolen", sagt Merkel, offenkundig auch mit Blick auf die jüngsten Demonstrationen gegen eine Islamisierung Deutschlands. Man müsse "Antisemitismus und jeder anderen Form von Menschenfeindlichkeit von Anfang an die Stirn bieten". Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erforderten Aufmerksamkeit und Einsatz. In Deutschland müsse "jeder, unabhängig von seiner Herkunft, frei und sicher leben können".

Die Jüngeren müssten nun das Erbe der Überlebenden weitertragen

Marian Turski, ebenfalls ein Überlebender von Auschwitz, erzählt von einer Begegnung mit einer jungen Deutschen. Sie habe ihn nach seinen persönlichen Erinnerungen an den Alltag in Auschwitz gefragt und sich später in einem langen Brief bei ihm entschuldigt - weil sie ihm diese Fragen gestellt habe, aber nie ihren Eltern und Großeltern. Die Jüngeren müssten nun das Erbe der Überlebenden weitertragen, sagt Turski, wie auch die Lehre der Geschichte: Wenn heute jemand einen Juden, Bosnier, Türken, Israeli, Palästinenser, Moslem oder Christen demütige, sei es so, "als beginne Auschwitz von Neuem".

Drei junge Menschen erzählen in der Veranstaltung beispielhaft von ihrem Umgang mit der Vergangenheit: Eine Polin, die sich um den Erhalt der historischen Fotos bemüht; eine Deutsche, die in Auschwitz für den Erhalt der Gedenkstätte gearbeitet hat, und ein junger Israeli, der heute in Berlin lebt. Es sei eine Herausforderung, berichtet er, mit den zwei Bildern dieser Stadt umzugehen - dem von heute und dem von der Hauptstadt des nationalsozialistischen Deutschlands.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: