Masern-Impfung:Gefährliche Ignoranz

Masern Impfung

Impfen oder nicht? In Berlin wird derzeit heftig über die Frage diskutiert.

(Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Ein Impfzwang widerstrebt dem Freiheitsempfinden vieler Menschen. Doch im Fall der Masern sprechen die medizinischen Argumente eindeutig für die Schutzmaßnahme. Die Impfung sollte zur Pflicht werden. Nicht aus dem Gefühl des Zwangs heraus, sondern aus Verantwortung.

Ein Kommentar von Werner Bartens

Sitzen ein paar Viren am Stammtisch. Sagt das eine: "Du, ich hab Mensch." Sagt das andere: "Was, sind die nicht längst erledigt?" Aus der Sicht von Viren, Bakterien und Co. ist der Mensch allenfalls ein vorübergehendes Phänomen, vielleicht ein Opfer, aber kein ernst zu nehmender Gegner. Es ist daher pure Überheblichkeit, wenn sich Homo sapiens für die Krone der Schöpfung hält. Wie schwerfällig und träge passt er sich an neue Herausforderungen an im Vergleich zu dem wendigen Kleinzeug, das ihn besiedelt, besetzt und im Zweifel auch besiegt.

Während der Mensch ein paar Hunderttausend Jahre gebraucht hat, um sich vom behaarten Klettermaxen zum aufrechten Bürobewohner zu entwickeln, bekommen Viren oder Bakterien weitaus drastischere Veränderungen in der Spanne eines Tages hin. Diese Flexibilität macht sie so stark, so vielseitig - und potenziell so gefährlich.

Aus diesem Grund werden virale und manche bakteriellen Leiden auch nie ganz zu besiegen sein. Bei ihrer Vermehrung stellen sich viele Mikroorganismen schließlich äußerst schlampig an, es kommt zu Kopierfehlern im Erbgut, und die Mutationen führen zu einer Vielzahl neuer Kombinationen. Kaum ist eine Impfung oder eine Therapie gegen einen Erreger gefunden worden, ist sie schon wieder veraltet und nicht mehr wirksam. Die Arznei wirkt nicht, weil die Mikroben sich längst gewandelt haben und in immer neuer Verkleidung den Angriffen der modernen Medizin trotzen.

Das gilt zwar längst nicht für alle Infektionsauslöser. Die Erreger der Kinderlähmung, von Diphtherie und Tetanus zum Beispiel, auch die der Masern und vieler anderer Leiden bleiben leidlich stabil. Deswegen lassen sie sich mithilfe von Impfungen gut verhindern. Andere - und hier sind besonders die viralen Erreger der Influenza oder von Aids zu nennen - wandeln sich jedoch so schnell, dass gegen sie kein Kraut gewachsen ist oder die Wirkung schnell wieder nachlässt. Und die Bakterien? Werden nach und nach unempfindlich gegen immer mehr Antibiotika, die einst doch so gut gegen sie geholfen haben. Längst sind multiresistente Keime zu einer großen Bedrohung in vielen Krankenhäusern geworden; diese Gefahr wird eher noch zunehmen, und eine Lösung ist nicht in Sicht.

Das größte Problem aber ist die Ignoranz. Da ist zuerst die Ignoranz gegenüber den Mikroben. Sie sind für das bloße Auge unsichtbar, nicht zu riechen, nicht zu schmecken. In der Begeisterung über den Siegeszug der modernen Medizin wird schnell vergessen, dass die Heilkunde gegen erstaunlich viele Infektionskrankheiten - ob Ebola oder Hepatitis, ob Sars oder Halskatarrh - nichts oder nur kläglich wenig ausrichten kann, womöglich auch nie etwas wird ausrichten können. Das gilt ja sogar für den banalen Schnupfen-Husten-Heiserkeit-Rotz. Hühnersuppe und Bettruhe, das war's. Also mehr Respekt vor den Erregern, bitte.

Ignoranz, ideologischer Eifer und Bequemlichkeit als Hintergrund

Mindestens so schlimm ist aber die dickfellige Ignoranz gegenüber dem, was hilft, was lindern, heilen, die Krankheit verhindern kann oder sogar dazu beiträgt, ein Leiden auszurotten. Ebola hätte sich früh eindämmen lassen, viele Menschen könnten noch am Leben sein, wenn Westafrika vom Rest der Welt nicht vernachlässigt worden wäre. Hier muss genauer hingeschaut und gehandelt werden: was kann gegen welche Infektion getan werden; zum Schutz des Einzelnen wie zum Schutz der Gemeinschaft.

Beispiel Masern. Es zeugt von Arroganz, davon zu sprechen, dass es besser sei, die Krankheit "durchzumachen", statt dagegen geimpft zu werden. So können nur jene reden, die Masern heil überstanden haben und nicht an den Spätfolgen einer Hirn- oder Lungenentzündung leiden. Medizinisch wie statistisch ist das Lob der Krankheit ebenfalls Unsinn: Schwere Komplikationen sind während einer Erkrankung um den Faktor 1000 häufiger als nach einer Impfung.

Sich impfen zu lassen ist im Fall der Masern auch ein Gebot der Solidarität. In jüngster Zeit hat sich gezeigt, dass bei Säuglingen und Kleinkindern die Komplikationen häufiger auftreten und schwerer verlaufen. Die Impfung ist aber frühestens nach dem elften, zwölften Lebensmonat möglich. Bei den bestehenden Impflücken oder einem Masernausbruch wie derzeit in Berlin sind die Kleinsten daher besonders gefährdet. Sie haben keinen Schutz. Es ist geradezu tragisch, dass diese beileibe nicht harmlose Kinderkrankheit weiterhin Opfer fordert, obwohl sie längst hätte ausgerottet sein können. Ein kleiner Piks für einen Menschen, ein großer Sprung für die Menschheit. Irrationale Widerstände gegen die Vakzination verhindern jedoch den Sieg über die Masern.

Es ist Menschen fremd, sich bei bestem Wohlbefinden eine Spritze geben zu lassen - die meisten Leute suchen den Arzt ja nur auf, wenn es ihnen schlecht geht. Auch widerstrebt es der Selbstbestimmung und dem Freiheitsempfinden vieler, sich auf Anordnung impfen zu lassen. Sprechen, wie im Fall der Masern, die medizinischen Argumente aber so eindeutig dafür, sollte eine Impfung zur Pflicht werden. Nicht aus dem Gefühl des Zwangs heraus, sondern aus Verantwortung - für sich selbst, aber eben auch für andere.

Anders verhält es sich mit der Grippe, die derzeit die halbe Republik plagt und viele Betriebe lahmlegt. Die Influenza-Viren verändern sich zu schnell und zu vielseitig, als dass der Impfstoff richtig greifen könnte. Vor diesem Problem stehen die Impfstoffentwickler jedes Jahr, sodass die Vakzination oft nur mäßigen Schutz bietet und daher lediglich Risikogruppen empfohlen wird. Offenbar ist der Nutzen systematisch überschätzt worden. Was bleibt, sind leider nur banale Hygienemaßnahmen - zum Beispiel, sich vermehrt die Hände zu waschen.

Wie diese beiden derzeit aktuellen Beispiele zeigen, geht es nicht um die alten Frontlinien zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern, sondern um eine medizinisch begründete Abwägung, die bei jeder Krankheit zu einem anderen Ergebnis führen kann. Ignoranz, ideologischer Eifer und Bequemlichkeit sind keine guten Ratgeber, wenn es darum geht, weiteres Leiden zu verhindern.

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