Streit um Stromtrassen:Verschoben und verschwiegen

Worker removes parts of a power pole to rebuild power lines in the western city of Meckenheim

Ein Arbeiter beim Austausch von Hochspannungsleitungen in Meckenheim: Die Energiewende ist an einem entscheidenden Punkt angekommen: Jetzt muss die Politik den Bürgern vermitteln, dass sie auch Opfer verlangt.

(Foto: REUTERS)

Das Gezerre um den Bau neuer Stromleitungen von Nord nach Süd zeigt deutlich: Die große Koalition traut sich nicht, den Bürgern die Wahrheit zu sagen. Dabei wäre es höchste Zeit für die Energiewende.

Kommentar von Markus Balser

Es war ein einziger Satz von Kanzlerin Angela Merkel, der diese Legislaturperiode prägen sollte: "Eine große Koalition ist eine Koalition für große Aufgaben" - das Versprechen der CDU-Chefin gleich zum Start legte eine hohe Hürde für ihre neue Amtszeit. Eine zu hohe für das Thema Energiewende, wie sich jetzt zeigt. Denn ausgerechnet die Pläne zum Bau neuer Stromtrassen, das derzeit wichtigste Projekt für den Umbau der Energiebranche, liegen auf Eis. Die Ergebnisse des Koalitionsgipfels der vergangenen Woche machten endgültig klar: Besserung ist nicht in Sicht. Nach monatelangem Aufschieben war sich der Koalitionsausschuss nur darin einig, die Entscheidung erneut - bis Juni - aufzuschieben.

Aus der Koalition der großen Aufgaben droht beim Bau neuer Stromautobahnen die Koalition des großen Aufgebens zu werden. Einen Großteil der Verantwortung trägt daran Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer. Der CSU-Chef schwingt sich zum Vorkämpfer der Trassengegner in Deutschland auf. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob und wie viele neue Leitungen überhaupt nötig sind, um künftig Windstrom aus dem Norden nach Süden zu transportieren. Die zuständige Bundesnetzagentur hält alle geplanten Trassen für unverzichtbar. Horst Seehofer nicht. Bayern stemmt sich vehement gegen den Bau neuer Leitungen. Höchstens eine will Seehofers Landesregierung dulden.

Die Energiewende wird Opfer verlangen

Die Blockadehaltung folgt immer neuen Bürgerprotesten. Denn wo Pläne für neue Leitungen auf dem Tisch liegen, ist der Ärger nicht weit. Am Niederrhein, in Hessen und Niedersachsen, vor allem aber in Bayern kämpfen Bürger gegen Masten und den drohenden Wertverlust ihrer Häuser. Dabei wird sich genau hier, bei der Akzeptanz vor Ort, entscheiden, ob Berlin das Versprechen halten kann, dass in den nächsten vier Jahrzehnten 80 Prozent des Stroms aus Wind-, Wasser- oder Solarenergie kommt. Schon jetzt warnen Netzbetreiber angesichts neuer Verzögerungen beim Trassenbau vor Strom-Engpässen.

Die Energiewende erreicht in diesen Monaten ihre entscheidende Phase - und wird für die große Koalition zum Drahtseilakt. Denn die Politik müsste nun verteidigen, was sie in die Wege geleitet hat. Doch nur wenige trauen sich, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Etwa, dass die Wende Opfer verlangen wird, weil neue Stromtrassen oder Windparks in der eigenen Nachbarschaft entstehen. Stattdessen wird verklausuliert, verschoben und verschwiegen.

Es geht um die Akzeptanz von Großprojekten

Erstaunliche Wendigkeit beweist vor allem Seehofer. Am Anfang, lange vor Fukushima, galt er als Freund der Kernkraft. Mit der Katastrophe wechselte er flink die Seiten und befürwortete das Abschalten der ältesten Kraftwerke. Schließlich hatte sich auch der Volkswille gedreht. Als klar wurde, dass Bayern mit Solaranlagen auf Dächern und Feldern einer der größten Profiteure der Ökostromumlage wurde, hatten die Erneuerbaren plötzlich in Seehofer einen glühenden Befürworter. Dass auch ost- und norddeutsche den Finanzfluss in den Süden finanzieren - das ist ein hübscher Gegeneffekt zum Länderfinanzausgleich. Und man darf getrost annehmen, dass auch die jüngste Wendung, neue Trassen abzulehnen, stärker von der Angst vor den Wählern getrieben ist als von der Überzeugung, dass die Stromtrassen wirklich überflüssig sind.

Der Kampf gegen den Klimawandel, der Atomausstieg, die Unabhängigkeit vom Import fossiler Energien aus undemokratischen Regionen - der Energiewende fehlt es nicht an guten Gründen. Es fehlt aber an mutigen Stimmen, die Zweifler auch bei umstrittenen Plänen überzeugen. Dabei drängt die Zeit. Während neue Windparks vor allem in Nord- und Ostdeutschland entstehen, werden in den nächsten Jahren in Süddeutschland sechs der neun verbliebenen Atomkraftwerke vom Netz gehen. Die Folge: eine große Stromlücke im Süden. Solarstrom kann die allenfalls tagsüber schließen. Im Norden dagegen herrscht Überfluss. Windparks produzieren mehr Strom, als verbraucht werden kann. Es entsteht ein System, das in Teilen des Landes zu viel und in anderen zu wenig produziert. Nur neue Stromtrassen können das ausgleichen.

Es geht bei der Auseinandersetzung über neue Stromleitungen um viel. Auch über die Energiewende hinaus. Seit der Eskalation im Streit um Stuttgart 21 galt Bürgerbeteiligung als letzte Chance, große Infrastrukturprojekte im Konsens mit der Bevölkerung umzusetzen. Die Stromtrassen sollten zum Praxistest dafür werden, ob das tatsächlich gelingt. Die große Koalition sollte diese Chance nicht fahrlässig verspielen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: