Karl Silex (XXXVIII):Bürger im Balanceakt

SZ-Serie (XXXVIII): Karl Silex führte bis 1943 die "DAZ".

HAUG VON KUENHEIM

Ich würde mich grade über eine kritische Auseinandersetzung mit meiner umstrittenen Laufbahn freuen", schrieb Karl Silex im Herbst 1968 an eine befreundete Journalistin. Er hoffte "noch vor Weihnachten", auf eine Rezension seiner Erinnerungen Lebensbericht eines Journalisten. Silex, der ehemalige Chefredakteur des Berliner Tagesspiegels (1955-1963), wusste genau, was seine Laufbahn zu einer umstrittenen machte: Er hatte in den Jahren von 1933 bis 1943 an der Spitze der Hauptstadtzeitung Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) gestanden.

Silex, Jahrgang 1898, aus einem protestantischen Pfarrhaus stammend, war Deutsch-Nationaler. Das Studium der Nationalökonomie in den frühen 20er Jahren hatte ihn in den Journalismus geführt, wo der helle Kopf schnell Karriere machte. Über das Hamburger Fremdenblatt kam er in die politische Redaktion der DAZ, die neben der Frankfurter Zeitung und dem Berliner Tageblatt zu den großen Zeitungen in der Weimarer Zeit gehörte. Man schickte ihn bald als Korrespondent nach London, wo Silex nebenbei das amüsante Buch John Bull zu Hause schrieb, eine soziologische Bestandsaufnahme des englischen Lebens.

Er hätte das Angebot der DAZ-Eigentümerfamilie Stinnes, Chefredakteur ihres Blattes zu werden, ohne weiteres mit "Nein" beantworten können. Der Zeitung drohte wegen eines Artikels, der Hitler in Rage gebracht hatte, ein Verbot, das nur durch einen Wechsel in der Chefredaktion zu umgehen war.

Silex sagte zu.

"Im Hitlerreich erlitt der Beruf des Journalisten einen raschen Niedergang", hieß es im Auftakt-Beitrag dieser SZ-Serie. Daran ist nicht zu deuteln. Auch wenn es manche gab, die versuchten, sich nicht verbiegen zu lassen und glaubten, ihr journalistisches Ethos behaupten zu können. Karl Silex glaubte das. "In meinen Leitartikeln stand vieles, was für Zwecke der Tarnung bestimmt war", schrieb er später, "oft sah ich mich von einem Gewissenskonflikt in den anderen getrieben. Mancher lange Artikel wurde eines einzigen Satzes wegen geschrieben, den zu entdecken unsere damaligen treuen Leser keine Schwierigkeiten hatten." Lange nach dem Krieg habe man ihm vorgeworfen, er habe "nationalsozialistische Siege" gefeiert.

Die Worte, gab er zu, seien so aufgetaucht; nur hätten damals die Leser den feinen Unterschied verstanden, der in der Redaktion der DAZ zwischen "nationalsozialistischen Siegen" und "deutschen Siegen" gemacht wurde. Doch Silex gestand auch, dass er manches später nicht mehr lesen konnte, ohne zu erröten. Den Journalisten trieben die Fragen um: War es möglich, das bürgerliche Blatt für einen besseren Tag zu erhalten? Durfte er seine Leser im Stich lassen? Kein vernünftiger Mensch habe damals von ihm und der DAZ einen Frontalangriff auf das Nazi-Regime erwartet, schreibt Silex. Aber: "Eine absolute Unabhängigkeit im demokratischen Sinne konnte der journalistische Beruf nicht mehr und nicht weniger für sich in Anspruch nehmen als jeder andere Beruf."

Was Silex versuchte, war, den Ruf und die Eigenart seiner Zeitung zu verteidigen. Trotz der staatlichen Sprachregelung sollte es möglich sein, meinte er, den Leser spüren zu lassen, dass er keine Parteizeitung las, wenn er die DAZ aufschlug - so handelte er sich später den Vorwurf ein, mitgeholfen zu haben, das wahre Wesen des Hitler-Regimes zu kaschieren. Silex, der nie Mitglied der NSDAP war, schreibt dazu: "Es kam darauf an, vor sich selbst zu bestehen. Diese Maxime des Handelns ist die einzige Lebensregel, der ich Anspruch auf Allgemeingültigkeit zubillige." Und er fügte hinzu, es sei ihm nicht immer gelungen, "vor mir selbst zu bestehen". Gelegentlich heulte auch er mit den Wölfen. Vor politisch gefährdete Mitarbeiter hat sich Silex couragiert gestellt, und seine weltmännisch souveräne Art schien sogar Propagandaminister Goebbels zu imponieren. In seinem Tagebuch notierte der über den Journalisten: ". .. aber ein frecher Kerl ist er doch".

Ein Widerständler wurde Karl Silex nicht, aber seine Freundschaft zu Generalstabsoffizier Henning von Treskow, der sich nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli das Leben nahm, machte ihn zum Mitwisser. Auf Treskows Frage, was er zu tun gedenke, wenn es soweit sei, Hitler zu beseitigen, antwortete Silex: "An dem Tage, an dem Ihr es geschafft habt, steht Euch die Deutsche Allgemeine Zeitung zur Verfügung." Treskows Antwort, die Silex in seinen Erinnerungen wiedergibt: "Genauso schlapp wie Kluge, Rundstedt und Manstein (Wehrmachtsgeneräle, Anm. d. A.). Jeder will erst mitmachen, wenn die Sache sicher ist." Silex hat diese Antwort nie vergessen. Und doch glaubte er, die DAZ als Plattform für die Wendezeit erhalten zu müssen. Sein unbestreitbarer Verdienst ist, dass er seine Arbeit im Dritten Reich, seine Motive und die Zwänge, unter denen er stand, später in seiner Autobiografie öffentlich gemacht hat. Kaum einer der damals in der Presse Verantwortlichen hatte diesen Mut.

Schließlich, im Frühjahr 1943, strich Silex die Segel. Als Goebbels Attacken auf das bürgerliche Blatt schärfer wurden und man seinem Chefredakteur Landesverrat vorwarf, verabschiedete sich Silex in fünf Zeilen von seinen Lesern und meldete sich als gelernter Seeoffizier des Ersten Weltkriegs bei Admiral Dönitz. Er wurde Kommandant eines Minenlegers. Später pflegte er zu sagen, nicht jeder Journalist könne mit einem Schiff von 3000 Tonnen im Hafen von Kopenhagen ohne Schlepperhilfe anlegen.

Karl Silex gehörte zu den Journalisten, die Politik machen wollten - das simple Reportieren und Berichten war seine Sache nicht, sein Metier war der Meinungsartikel. Er sah sich in Augenhöhe mit den politisch Handelnden. Dem entsprach auch seine Vorstellung von der Rolle eines Chefredakteurs. Der müsse der Hauptleitartikler seines Blattes sein, forderte Silex. Ein nicht schreibender Chefredakteur kam ihm vor wie ein Bundeskanzler, der keine Reden hält.

Nach dem Krieg gründete er in Stuttgart Die deutschen Kommentare, eine Wochenzeitung, die sich als Kampfblatt für die Wiedervereinigung verstand und bis 1957 erschien. Silex trat darin für eine bewaffnete Unabhängigkeit Gesamtdeutschlands ein und verlangte eine sorgfältige Prüfung der Stalinnote von 1952, die ein blockfreies Deutschland zu ermöglichen schien. Als er Chefredakteur des Tagesspiegels wurde, legte er sich in Kommentaren mit Adenauer an, weil dessen Westbindung der Politik zu viele Fesseln anlege. Silex focht für eine realistische Ostpolitik und setzte sich für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ein. Nach seinem Abschied vom Tagesspiegel arbeitete er als freier Journalist; die Bücherkommentare, eine weitere von ihm gegründete Zeitschrift, verkaufte er 1965. Seine letzten Jahre verbrachte er in Köln, wo er 1982 starb.

Karl Silex wurde in den frühen Jahren der Bundesrepublik immer wieder als "letzter Chefredakteur alten Stils" bezeichnet. Die Zeitung sei, pflegte er zu sagen, der letzte Hort der Universitas, und ein Chefredakteur sollte von möglichst vielen Gebieten mindestens so viel verstehen, dass er wisse, worauf es den Fachleuten jeweils ankomme.

Sein Motto hatte Silex aus England mitgebracht: Tone and balance - Ton und Maß.

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