Unruhen in US-Kleinstadt Ferguson:Der erste Schuss

  • In der US-Kleinstadt Ferguson sind zwei Polizisten angeschossen worden.
  • Nach zahlreichen Vorfällen zwischen Polizisten und Afroamerikanern wächst bei vielen Menschen die Sehnsucht nach Selbstjustiz.
  • Die Geschichte der "South Central Riots" von 1992 zeigt, dass nicht viel nötig ist, um aus wütenden Protesten einen bürgerkriegsähnlichen Zustand werden zu lassen.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es war im Juli 2013, als Bettye Jones im Leimert Park von Los Angeles stand und in mehr als 1000 wütende Augenpaare blickte. Aus Lautsprechern dröhnte das Lied "Fight the Power" von Public Enemy, auf vielen T-Shirts stand "Fuck the Police", hin und wieder brüllte einer: "Cop Killer!"

Die Menschen protestierten damals gegen den Freispruch für den Nachbarschaftswächter George Zimmerman, der in Florida den unbewaffneten Afroamerikaner Trayvon Martin erschossen hatte. Die Menschen in diesem Park, sie schienen nur darauf zu warten, dass ihnen jemand die Erlaubnis zum Prügeln und Plündern gibt.

Jones sah sich das an mit jenen müden und traurigen Augen, die ein Mensch bekommt, wenn er 66 Jahre in Compton - einem Vorort im Süden und seit den Achtzigerjahren ein Synonym für Ganggewalt - lebt und Dinge sehen muss, die sich andere nicht einmal vorstellen können. Sie hörte ihren Vorrednern zu, dann nahm sie das Mikrofon und sagte mit ruhiger Stimme: "Lasst uns friedlich demonstrieren und nicht gegen das Gesetz verstoßen." Dann setzte sie sich auf eine Parkbank und begann zu beten.

Angst vor Massenunruhen in den USA

Sie wusste, ihre Augen hatten es im April 1992 gesehen, dass nicht viel nötig ist, um aus wütenden Protesten einen bürgerkriegsähnlichen Zustand werden zu lassen. South Central Riots, der Name der Massenunruhen in Los Angeles mit 53 Toten, mehr als 2000 Verletzten und einem Schaden von mehr als einer Milliarde US-Dollar, er ist tief im kollektiven Gedächtnis der Amerikaner verankert. "Es genügt ein Akt der Gewalt, damit so etwas beginnt", sagte Bettye Jones im Juli 2013: "Es genügt ein Schuss."

In Ferguson hat es am Mittwochabend Schüsse gegeben, zwei Polizisten wurden dabei schwer verletzt. Im Netz kursiert ein Amateurvideo, auf dem eine ruhige Straße zu sehen ist, ohne Proteste oder Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizisten. Dann sind Schüsse zu hören, Menschen schreien, Polizisten gehen mit gezogener Waffe in Stellung. "Die Beamten standen nur da. Sie wurden nur deshalb angeschossen, weil sie Polizisten waren. Die Schüsse waren direkt auf sie gerichtet", sagte der Polizeichef des Bezirks St. Louis, Jon Belmar, den anwesenden Reportern: "Es gibt zu viel Gewalt in dieser Stadt, diese Vertrauenskrise sorgt dafür, dass wir alle weniger sicher leben."

Polizeiliche Gewalt ist derzeit wieder im kollektiven Gedächtnis der Amerikaner verankert - nicht nur wegen der Vorfälle in Ferguson. In New York starb ein Afroamerikaner an den Folgen eines polizeilichen Würgegriffs, obwohl er wiederholt gerufen hatte, keine Luft zu bekommen. In Los Angeles erschossen Polizisten einen obdachlosen Afroamerikaner, der sich bei einer Kontrolle zur Wehr gesetzt und nach der Pistole eines Beamten gegriffen hatte.

Viele Afroamerikaner fühlen sich als Menschen zweiter Klasse

Für Furor sorgen dabei nicht nur die Taten selbst, sondern auch die Aufarbeitung danach: Der Schütze in Florida wurde freigesprochen, die Beamten in Ferguson und New York nicht strafrechtlich angeklagt. Nicht wenige Afroamerikaner werteten das als Bestätigung ihres Verdachts, dass sie allzu häufig Opfer von polizeilicher Gewalt und rassistischer Willkür werden. Dass sie als Menschen zweiter Klasse bewertet werden, deren Leben weniger wert ist als das eines Menschen mit hellerer Hautfarbe.

Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des US-Justizministeriums schildert die systematische Schikanierung von Afroamerikanern in Ferguson. Deshalb haben Polizeichef Thomas Jackson und Mitglieder der Stadtverwaltung ihren Rücktritt bekanntgegeben.

Die Sehnsucht nach Selbstjustiz wächst

In Los Angeles demonstrierten kürzlich zahlreiche Menschen wegen der Tötung des Obdachlosen - und sie brachten Statistiken mit, mit denen sie ihre Wut rechtfertigten: Der Los Angeles Times zufolge gab es in den vergangenen 15 Jahren insgesamt 228 Menschen, an deren Tod Beamte des Los Angeles Police Department beteiligt waren - durchschnittlich wird dort also alle drei Wochen jemand von einem Polizisten getötet, mehr als vier von fünf Opfern sind Afroamerikaner oder Latinos. Die Menschen beschweren sich über mangelnde Transparenz bei den Ermittlungen und befürchten, dass die Tat ungesühnt bleibt.

Es wächst die Sehnsucht nach Selbstjustiz, das war bei den Protesten in Los Angeles deutlich zu spüren. Auf die Straße gehen, Plakate und die rechte Faust in die Höhe recken und T-Shirts mit Schimpfwörtern darauf zu tragen: Das scheint manchen Menschen nicht mehr zu genügen. Sie wollen das Motto vieler Demonstrationen - "No Justice - No Peace" (Keine Gerechtigkeit - kein Frieden) nicht mehr nur brüllen, sondern auch umsetzen. Der Stiefvater des 2014 in Ferguson erschossenen Jugendlichen Michael Brown hatte zunächst zu Frieden gemahnt, später rief er jedoch: "Brennt den Scheiß nieder!"

Nun gab es in Ferguson die ersten Schüsse. Zwei Polizisten sind schwer verletzt. Bettye Jones sagte damals im Leimert Park von Los Angeles: "Wir müssen uns immer daran erinnern, was bei den Unruhen passiert ist - und wem diese Gewalt etwas gebracht haben: Niemandem." Bleibt zu hoffen, dass sich nach den ersten Schüssen viele Menschen wieder daran erinnern.

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