Angela Marquardt und die Stasi:"Ihr habt mich benutzt!"

Martin U. K. Lengemann

Jahrelang hat Angela Marquardt versucht, ihre wahre Vergangenheit herauszufinden. Von dem, was sie für ihr Leben hielt, blieb dann nicht mehr viel.

(Foto: Martin U. K. Lengemann)

Einst tingelte sie als die Punk-Abgeordnete von der PDS durch die Talkshows der Republik. Jetzt erzählt Angela Marquardt eine erschütternde Geschichte: Über die Stasi, über Missbrauch und was es heißt, im falschen Leben aufzuwachsen.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Angela Marquardt ist im Wutmodus, als wir uns zum Gespräch in ihrem Büro treffen. Irgendein Stress mit einem anderen Journalisten-Kollegen wegen des Buches. "Vater, Mutter, Stasi", heißt es. Es ist die Geschichte über die Stasi und wie die sich in ihr Leben wanzte, als sie noch ein Kind war. Die Frau vom Verlag muss den Ärger jetzt ausbaden. Wenn Angela Marquardt im Wutmodus ist, wäre es besser zu verschwinden. Sie knallt den Hörer auf. Wir können reden. Also reden wir. Über ihre Angst zum Beispiel. Ihre Angst, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Ihre Angst, sie vor Publikum erzählen zu müssen. Am Ende bleibt Wut. Sie wird so schnell nicht verschwinden.

SZ: Frau Marquardt, Sie waren eine öffentliche Person, saßen als Abgeordnete im Bundestag, als der Punk von der PDS in Talkshows, waren stellvertretende Parteivorsitzende. Redegewandt und schlagfertig. Was ist die neue Erfahrung, die Sie gerade machen, seit Ihr Buch erschienen ist?

Angela Marquardt: Es ist alles sehr viel emotionaler. Über Politik kann man stundenlang mit mir reden, da habe ich immer einen flotten Spruch auf der Lippe. Aber hier geht es um mich persönlich. Ich muss mir Fragen, auch sehr kritische Fragen zu meiner Biografie stellen lassen. Ich bin sehr viel schneller im Verteidigungsmodus.

Warum meinen Sie, sich verteidigen zu müssen? Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Sie von Ihrer Familie und von Freunden der Familie so manipuliert wurden, dass Sie als Kind schon im Alter von 15 Jahren eine Verpflichtungserklärung für die Stasi unterschrieben haben.

Ich habe Jahre gebraucht, meine ganze Geschichte erzählen zu können. Ich kann mich jedoch bis heute nicht an den Moment erinnern, in dem ich die Verpflichtungserklärung unterschrieben habe. Fragen danach interpretiere ich schnell als Angriff auf mich. Auch wenn sie so nicht gemeint sind. Das sind Sensibilitäten, die auch für mich neu sind. Ich habe nicht umsonst das Buch zusammen mit der Journalistin Miriam Hollstein geschrieben. Einfach auch, damit sie mir all die Fragen stellt, die gestellt werden müssen. Das war ein harter Prozess für mich.

Ihr Vater war ein Sadist, hat Sie mit einer Hand kopfüber über die Balustrade auf dem Turm der Marienkirche in Greifswald gehalten. Ihr Stiefvater hat Sie jahrelang sexuell missbraucht. Die Stasi hat Sie benutzt. Manche sagen, reden hilft. Hilft Ihnen das Reden über Ihre Geschichte?

(zögert) Na ja, das Buch ist das vorläufige Ende eines Prozesses, der damit nicht zu Ende ist. Es ist für mich ein Neuanfang, um endlich sprechen zu können. Vor allem über meine 100-seitige Stasi-Akte.

Wie begegnen Ihnen die Menschen nach diesem Buch?

Auf der Buchmesse in Leipzig ist ein älterer Herr auf mich zugekommen. Er sagte, er sei IM der Stasi gewesen, also inoffizieller Mitarbeiter, und fing sofort an zu weinen. Er käme damit nicht klar und ob ich mit ihm mal reden würde. Wenig später sprach mich eine Frau an. Sie sagte danke, fing auch sofort an zu weinen. Und erzählte, dass ihr Mann sie im Auftrag der Stasi geheiratet hätte. Das sind emotionale Begegnungen, mit denen ich in der Form nicht gerechnet habe. Ich habe sehr viel Zuspruch und Respekt in den letzten Wochen bekommen.

Ihr Buch hat eine Wirkung, die weit über Ihre Person hinausreicht.

Ja, das ist ungewohnt für mich. Ein Pfarrer hat mich angesprochen. Er sagte mir, dass er mit dem Buch jetzt erstmals eine Bestätigung für einen lang gehegten Verdacht in der Hand hat. Nämlich, dass ein Teil der Theologie-Studenten in der DDR von langer Hand darauf vorbereitet worden sein muss, die Kirche auszuspionieren. Das Buch könnte jetzt nach sich ziehen, dass an der Uni Greifswald die DDR-Vergangenheit neu diskutiert wird. Auch wenn das natürlich positiv wäre, fällt es mir noch schwer, damit umzugehen.

Kommen auch Menschen von damals auf Sie zu?

Ein früherer Nachbar aus dem Haus in Greifswald, in dem ich wohnte, hat mich kontaktiert. Er wollte wissen, ob auch er und seine Angehörigen von meiner Familie bespitzelt worden sind. Ich konnte die Frage für meine Akte mit Nein beantworten. Aber mir ist noch einmal bewusst geworden, welche Konsequenzen das Buch hat. Mein Deckname ist öffentlich. Leute können ihre Stasi-Akte lesen und wissen jetzt, dass ich das bin, der hinter IM Katrin Brandt steckt.

Ist das denn nicht auch Zweck Ihres Buches: Eine Einladung an Menschen, die sich womöglich als Opfer Ihrer - wenn auch jugendlichen - IM-Tätigkeit sehen, sich bei Ihnen zu melden?

Wenn jemand meinen Decknamen in seiner Akte findet, dann ja, dann würde ich das gut finden, wenn derjenige Kontakt mit mir aufnimmt.

Opfer, Täterin - wie sehen Sie sich?

Ich bin gefragt worden, wo ich mich auf einer Skala von eins bis zehn einordnen würde. Eins gleich Opfer, zehn gleich Täter. Ich sehe mich aber weder als Opfer noch als Täter. Eher als Betroffene. Die wahren Opfer sind die, die zum Beispiel im Stasi-Knast gelandet sind. Ich frage mich heute, warum ich nicht gemerkt habe, dass meine angeblichen Freunde mich knallhart benutzt haben, um Informationen über andere aus mir herauszubekommen. Dafür muss ich die Verantwortung übernehmen. Und das ist mein Thema.

Hätten Sie damals, mit 15, 16 oder 17, ernsthaft verantwortlich handeln können? Sie hätten dafür das System durchschauen und sich dagegen stellen müssen. Mit allen Konsequenzen.

Ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Chance, das System zu durchschauen. Aber was ich heute daraus mache, das liegt in meiner Hand.

Sie sitzen in diesem Gespräch zusammengekrümelt auf Ihrem Stuhl. Dass Sie verunsichert sind, ist deutlich spürbar.

Ich würde nicht mehr sagen, dass ich ängstlich bin. Aber ja, verunsichert bin ich nach wie vor. Ich habe keine Steineschmeißer-Vergangenheit, über die wir hier heute zusammen vielleicht lachen könnten. Es geht um meine Stasi-Akte. Um Verantwortung. Und darum, dass ich meine Geschichte nicht mal eben in fünf Minuten erklären kann. Mir ist wichtig, dass mein Gegenüber meine Geschichte versteht und vielleicht nachvollziehen kann. Ich kann das nicht immer beeinflussen. Und das verunsichert mich.

Es gibt Fragen in Ihrer Geschichte, die offen bleiben, womöglich offen bleiben müssen. Etwa die, wie es sein kann, dass Sie sich an Ihre Verpflichtungserklärung nicht erinnern können. Sie haben sich im Alter von 15 Jahren, am 3. April 1987, auf einer halben Din-A4-Seite handschriftlich mit Ihrer Unterschrift zur Zusammenarbeit mit der Stasi verpflichtet. Der Text klingt wie diktiert. Da steht etwa, Sie möchten "aktiv die gesellschaftliche Entwicklung der DDR unterstützen" und ihre "Feinde unschädlich machen". Mit dem Papier aber können Sie offenbar nichts verbinden, keine Erinnerung, kein Gefühl.

Es gibt in meiner Akte auch Beschreibungen, in welcher Situation das stattgefunden haben soll. Das kann stimmen. Das kann auch nicht stimmen. Ich erinnere mich an nichts davon. Aber wer soll mir das abnehmen? Wer soll mir das glauben? Ich selber finde das auch ziemlich skurril. Es gibt ja auch keinen Grund, das nicht zu erinnern. Es gab andere Situationen aus der Zeit, an die kann ich mich sehr klar erinnern.

Was ist Ihre Erklärung?

Ich hatte zum Zeitpunkt der Erklärung ganz andere Probleme: Meine Eltern waren dabei, nach Frankfurt/Oder umzuziehen. Ich wollte unbedingt in Greifswald bleiben...

...um den Übergriffen Ihres Stiefvaters zu entkommen.

Ja. Das hat mich alles sehr beschäftigt. Diese Verpflichtungserklärung scheint für mich gemessen daran keine Bedeutung gehabt zu haben. Ich konnte am Ende in Greifswald bleiben. Das war wichtig.

Die Stasi war damals praktisch Ihre Familie. Ihre Mutter hat laut Ihrer Akte für die Stasi gearbeitet, Deckname Barbara. Ihr Stiefvater, Deckname Ulf Meißner. Ihr Großvater, Deckname Jugendfreund. Die besten Freunde der Familie waren hauptamtlich bei der Stasi. Thomas M. war der Führungsoffizier Ihrer Eltern. Jörg V. und Jörg S. waren später neben Thomas M. auch Ihre Führungsoffiziere. Sie gingen bei Ihnen zu Hause ein und aus, wurden auch Ihre Freunde. Sie haben Sie über Jahre mit Unterstützung Ihrer Mutter und Ihres Stiefvaters zu einem Nachwuchs-Spitzel aufgebaut, ohne dass Sie das merken sollten. Sie sollten sogar Theologie studieren, um in kirchliche Strukturen eingeschleust werden zu können.

Total absurd. Bei uns war Kirche nie ein Thema. Aber irgendwann habe ich das ernsthaft für eine tolle Idee gehalten, Theologie zu studieren. Als ich mal in Mathe an der Tafel stand und nicht weiter kam, habe ich dem Lehrer an den Kopf geworfen, dass mir das jetzt alles egal ist, ich würde sowieso Theologie studieren.

Sie hatten großes Vertrauen zu Ihren Freuden, die sich später als Ihre Führungsoffiziere entpuppten.

Ich hatte großes Vertrauen, definitiv. Und ich wollte dieses Vertrauen auch nicht infrage stellen. Ich wollte nicht, dass das auch böse Menschen sein könnten. Ohne sie hätte ich nicht allein in Greifswald bleiben können. Ich habe sie mit nichts infrage gestellt. Die Stasi konnte sich meiner ziemlich sicher sein, hat mir mal ein Stasi-Experte gesagt. Es tut weh, das zu hören.

Aber Sie haben offenbar zu keinem Zeitpunkt in dem Bewusstsein gelebt, der Stasi zuzuarbeiten.

Ich kannte ja bis zur Wende nicht mal den Begriff Stasi. Für mich war das das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Arbeitgeber wie jeder andere.

In Ihrem Buch gibt es das Kapitel drei mit der Überschrift: Das Geheimnis. Darin schildern Sie den sexuellen Missbrauch durch Ihren Stiefvater. Sie waren neun Jahre alt, als es begann. Und es endete erst, als Sie allein in Greifswald bleiben konnten. Sie schreiben, dass sich ohne diesen Teil Ihrer Geschichte, der andere, der Stasi-Teil, nicht erklären lässt. Warum nicht?

Für mich sind diese Erfahrungen der Schlüssel zu meinem damaligen Verhalten, und es erklärt vielleicht, weshalb ich nichts hinterfragt habe. Ich wurde von den Freunden wie eine Erwachsene behandelt. Sie waren gut zu mir und taten mir nicht weh. Ich war auf der Suche nach Geborgenheit und Aufmerksamkeit. Und sie waren die ersten männlichen Bezugspersonen, die mir in meinem Verständnis beides gaben. Die haben sich ernsthaft mit mir auseinandergesetzt. Sie gaben mir das Gefühl: Wir sind an Deiner Seite und mit uns kann Dir nichts passieren. Ich habe ihnen geglaubt. Ich wollte vertrauen. Ich fand sie toll und cool.

Wann kamen sie in Ihr Leben?

Thomas M. kannte ich schon circa sechs Jahre, bevor diese Verpflichtungserklärung geschrieben wurde. Der hat ja auch alles ins Rollen gebracht. Wann es dann konkret losging, mich für die Stasi als IM auszubilden, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Ich denke, dass ich für Thomas so ab 14 interessant wurde. So interpretiere ich jedenfalls seine Personalakte, die Frau Hollstein und ich einsehen konnten.

Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass das Verhalten Ihrer angeblichen Freunde nichts anderes als ein weiterer Missbrauch war?

Das hat sehr lange gedauert und war letztlich der Auslöser, dieses Buch zu schreiben. 2002 ist ja meine Stasi-Akte erstmals öffentlich geworden. Ich war geschockt. Ich war nicht in der Lage mir einzugestehen, dass das keine Freunde gewesen sein sollen. Ich wollte nicht wieder diejenige sein, die benutzt worden ist.

Was ist dann passiert?

Im November 2013 bin ich Jörg S. zufällig auf einer Feier in Greifswald begegnet. Ich habe ihn zur Rede gestellt. Und als er ging, habe ich ihm in die Nacht hinterhergerufen: "Ihr habt mich benutzt!" Eigentlich ist mir erst in dem Moment, in dem ich das aussprach, bewusst geworden, dass das stimmt. Dass sie mich benutzt haben, dass das nie Freunde waren.

Und dass ein System dahinter steckte.

Das habe ich erst später verstanden. Während der Arbeit an dem Buch stießen wir auf Diplomarbeiten, die an der juristischen Stasi-Hochschule Potsdam entstanden sind. Darin geht es explizit darum, wie Kinder und Jugendliche für die Stasi rekrutiert werden können. Ich musste nach der Lektüre erst mal eine Stunde mit dem Rad durch die Stadt fahren.

Sie sagen, Sie waren total angepasst in der DDR. Sie wollten Judo-Weltmeisterin werden. Sie wären deshalb sogar zur Nationalen Volksarmee gegangen. Nach der Wende dann haben Sie sich den Punks in Greifswald angeschlossen. Weil die damalige PDS für die Punks ein offenes Ohr hatte, sind Sie in der Partei gelandet, haben dort Karriere gemacht. Aber wieso schließt sich eine hochangepasste DDR-Judoka nach der Wende plötzlich den Punks an?

Ich hatte damals Angst, in der DDR ein langweiliges Leben zu führen. Ich wollte Judo-Weltmeisterin werden, um durch die Welt zu reisen und Leute aufs Kreuz zu legen. Und das gerne als Sportoffizier der NVA, weil einem da ja in meiner naiven Vorstellung nicht langweilig werden konnte - durch den Wald robben und ständig Abzeichen machen. Die NVA hat mich aber nicht genommen. Frauen durften keine Sportoffiziere werden.

War denn ihr Alltag so furchtbar öde?

Nein, aber das Leben war so furchtbar vorgezeichnet. Das habe ich schon wahrgenommen. Dass es in meiner Familie um die Freunde meiner Eltern so viele Geheimnisse gab, das fand ich dann schon irgendwann interessant, habe mir aber letztlich keine weiteren Gedanken darüber gemacht.

Und nach der Wende?

Da organisierten sich plötzlich Nazis in der Stadt. Und die beiden Punks, die mir früher schon aufgefallen waren, die stellten sich gegen die Nazis. Also stand ich eines Tages bei denen auf der Matte und wollte auch was gegen Nazis machen. Einer von beiden drückte mir dann das RAF-Buch "Der Baader-Meinhof-Komplex" in die Hand. Ich war nicht radikal, aber wir diskutierten über Anarchie und die Gesellschaft. Sie haben mir einfach ein spannendes Leben in einer unsicheren Zeit geboten.

Sie kommen aus einer Stasi-Familie und sind in der PDS dann zu einer scharfen Stasi-Kritikerin geworden. Haben Sie da nie an Ihre eigene Rolle gedacht?

Die Partei hat damals eine Fahrt in den Stasi-Knast Bautzen angeboten. Da sind nicht viele mitgefahren. Ich habe mir das angeschaut und war entsetzt. Mich selbst habe ich ja nie als darin so tief verwickelt wahrgenommen. Jörg S. bin ich hin und wieder begegnet. Die Treffen hatten immer einen schalen Beigeschmack. Nicht, weil ich damals schon dachte, was hat der mir angetan. Sondern weil er ein so unproblematisches Verhältnis zur Stasi hatte.

Das Bild von der DDR ist nach der Wende von Filmen wie "Good bye, Lenin" und "Sonnenallee" geprägt worden. Die DDR war darin irgendwie süß und skurril und lustig. Konnten Sie mit der Art von Humor etwas anfangen?

Tatsächlich nicht. Ich hatte auch Spaß vor der Wende, so ist es nicht. Ich hatte meine Freunde gern und bin gerne zum Judo gegangen. Aber diese Kultur der Aufarbeitung ging an mir vorbei. Die DDR war ein Unrechtsstaat. Die DDR, die ich erlebt habe, war nicht lustig.

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