Gastkommentar:Ukrainische Lektionen

Beobachtungen einer deutschen Forschergruppe unter jungen Leuten in Kiew, Lwiw und Charkiw: Was die Begeisterung und die Frustration der Maidan-Generation mit der Zukunft Europas als Ganzem zu tun haben.

Von Vincent-Immanuel Herr

Auf den ersten Blick haben junge Deutsche und ihre Altersgenossen in der Ukraine viel gemeinsam: Sie hören ähnliche Musik, nutzen Facebook und Twitter und streben nach Demokratie und respektvollem Miteinander. Der Unterschied ergibt sich aus dem Kontext: Seit über einem Jahr tobt im Osten der Ukraine ein brutaler Krieg, der das ganze Land in Mitleidenschaft zieht. Das ist eine Situation, die junge Deutsche nicht kennen, nicht verstehen, nicht einschätzen können. In der Ukraine ist Krieg alltäglich und omnipräsent, eine Erfahrung, auf die einen nichts - keine Bücher, Studien oder Gespräche - vorbereiten kann.

Vor einem Jahr gingen junge Ukrainer auf die Barrikaden, weil sie Teil von Europa werden wollten. Dieses Jahr waren wir für ein Forschungsprojekt losgezogen - nach Kiew, Lwiw und Charkiw -, um genau diese Generation näher kennenzulernen. Wir sprachen mit Künstlern, Aktivistinnen, Studenten und Journalistinnen und erlebten dabei Erstaunliches. Auch heute noch schauen junge Menschen, in allen Teilen des Landes, nach Westen auf der Suche nach Inspiration und Austausch. Gleichzeitig zeigt sich aber auch Resignation über fehlende Unterstützung und Interesse aus der EU.

Unter jungen Ukrainern ist es üblich geworden, auf neue Meldungen von Anschlägen in Donezk oder Berichten über russische Panzer in der Ukraine zynisch zu reagieren: "Die EU ist jetzt sicher wieder tief besorgt!" Die jungen Menschen wissen um die finanzielle Hilfe aus der EU, die Sanktionen gegen Russland, die diplomatischen Bemühungen in Minsk. Es ist aber auch klar, dass die tief greifende Transformation ausgeblieben ist, auf die viele jungen Menschen gehofft hatten, als der Maidan-Protest von proeuropäischen Studenten gestartet wurde. Sie wollten einen unabhängigen Staat formen, der nach EU-Muster Stabilität, Demokratie und Sicherheit garantiert. Doch davon ist das Land weit entfernt.

Schwerer noch als die Enttäuschung über das Ausbleiben konkreter Unterstützung wiegt der Umstand, dass sich viele junge Menschen auch als Ukrainer ignoriert fühlen. Nicht ganz zu Unrecht weisen viele darauf hin, dass die gesamte Welt zwar über die Ukraine spricht, kaum jedoch mit den Ukrainern. Schnell entsteht das Gefühl, dass es dem Westen gar nicht so sehr um die Ukraine, sondern um den Umgang mit Russland geht.

Seit einem Jahr hat sich in der Ukraine ein neuer Patriotismus entwickelt. Immer wieder wurde uns erzählt, dass sich erst seit dem Maidan das Gefühl für einen eigenständigen Kulturraum und eine eigenen nationale Identität entwickelt hat - in einem Land, das historisch fast ausnahmslos Teil anderer Reiche war (von Polen, Österreich-Ungarn, Russland oder der Sowjetunion). Dies Erbe abzulegen ist schwieriger als gedacht. Deutsche Medien bezeichnen die Ukraine gerne als "ehemalige Sowjetrepublik Ukraine". Ganz so, als würden die Leser sonst nicht verstehen, wovon die Rede ist. Niemand spricht von der "ehemaligen Sowjetrepublik Russland".

Junge Menschen legen das Fundament für eine neue Zivilgesellschaft

Geschichtsunwissenheit ist für sich genommen nichts Verwerfliches - man lernt eben nicht aus. Das Besondere bei der Ukraine ist, dass sich hier fundamentale Fragen der Zukunft Europas stellen und auch hier beantwortet werden müssen. In Lwiw besuchten wir die Nationalgalerie, in der junge Künstler ihre Werke über den Maidan und den Krieg zu klassischen Stücken in Beziehung setzten. Das regte uns zum Innehalten und Nachdenken an.

Seit Jahren beklagen Politiker in der EU die fehlende Begeisterung für Europa unter jungen Menschen: Die Wahlbeteiligung geht zurück, extremistische Parteien gewinnen an Stärke, eine Studie nach der anderen zeigt, dass gerade jungen Deutschen politisches Interesse und Engagement fehlen. Zur gleichen Zeit hat sich weiter östlich eine ganze Generation junger Aktivisten geformt, die hoch motiviert und kreativ für ihre Ziele eintritt. Junge Ukrainer bilden das Fundament einer engmaschig vernetzten Zivilgesellschaft, die all die Aufgaben und Prozesse übernimmt, zu der die Regierung nicht imstande ist. Sie erhalten das Land so wortwörtlich am Laufen und auch am Leben: von der Unterbringung der Flüchtlinge aus dem Osten und dem Ringen um unabhängige Berichterstattung bis hin zur Versorgung der Armee.

Aller Kriege und Korruption in der Ukraine zum Trotz können Westeuropäer von den Menschen dort Begeisterung für Demokratie, Mitbestimmung und politischen Aktivismus lernen. Junge Menschen in Deutschland können von ihren Altersgenossen lernen, dass es wichtig ist, sich als Individuum einzubringen und Engagement zu zeigen. Wie Studien zeigen, zweifeln viele junge Deutsche an ihrem Einfluss als Individuen in der Gesellschaft. Das frustriert und lähmt sie verständlicherweise. Erfrischend ist es zu sehen, dass es in der Ukraine junge Menschen gibt, die voller Feuer für eine Idee einstehen und die für ihr politisches Engagement jede freie Minute aufwenden. Nicht nur das: Hier zeigt sich jeden Tag ganz konkret, dass persönlicher Einsatz Wirkung haben und Veränderung bringen kann.

Es ist wichtig zu verstehen, dass der Ukrainekonflikt kein harmloser Disput ist, sondern ein Grundsatzkonflikt, der alle Europäer angeht. Die Lösung für diese gesamteuropäische Herausforderung liegt aber bei Weitem nicht nur bei Politikern, sondern bei allen Bürgern: Der erste Schritt muss sein, die Ukraine als Land und seine Menschen ernst zu nehmen und besser verstehen zu lernen. Dieses Verständnis ist unerlässlich, wenn man Lösungen finden will für Europas größten Krisenherd.

Vincent-Immanuel Herr (26) studiert Geschichte und Politik an der Freien Universität Berlin. Zusammen mit der Stiftung Mercator arbeitet er an einem Forschungsprojekt zur Jugend Europas und hat dafür im letzten Jahr 14 Länder besucht, um junge Menschen kennenzulernen.

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