Erster Weltkrieg:Das Dröhnen von Gallipoli

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Truppen der Entente-Mächte bei der Landung an den Dardanellen während der Schlacht um Gallipoli (Foto: Getty Images)

Während weltweit der ermordeten Armenier gedacht wird, begeht die offizielle Türkei den 100. Jahrestag der Dardanellen-Schlacht. Besuch bei den Nachfahren von einem, der als Kriegsheld verehrt wird.

Reportage von Mike Szymanski, Gölcük

Es ist eine türkische Heldengeschichte, auch wenn der Kapitän, der gerade vor einem steht, noch kein ganz richtiger ist. Und das Schiff, auf dem er zum Gespräch eingeladen hat, überhaupt nichts mit der Seeschlacht zu tun hat, die seine Familie einst berühmt gemacht hat. Bedauerlicherweise steht es auch noch auf dem Trockenen. Etwa 50 Meter vom Marmara-Meer entfernt, an der Uferpromenade der Marinestadt Gölcük.

Da bekommt man gleich mal ein Gefühl dafür, was mit Geschichte passiert, wenn sie in die Jahre kommt und 100 Jahre auf dem Buckel hat. Das Korrekteste ist im Augenblick noch der Krawattenknoten, den Cihat Gündoğdu trägt.

Ein wichtiger Mann - in türkischen Geschichtsbüchern

Das ist der 24 Jahre junge Mann, der diese Heldengeschichte mit einem gewissem Besitzerstolz vorträgt. Er ist ein Nachfahre von Kapitän Ismail Hakkı, dem Großvater seines Großvaters. In türkischen Geschichtsbüchern ist Hakkı ein wichtiger Mann.

Als im Ersten Weltkrieg die britisch-französische Flotte sich den Weg durch die Meerenge der Dardanellen freischießen wollte, stellte sich ihnen Kapitän Hakkı entgegen, mit seinem nur 40 Meter langen Minenleger, der Nusret.

Mit einer List und 26 Minen schickte die Nusret drei gegnerische Schlachtschiffe auf den Meeresgrund und beschädigte drei weitere so sehr, dass sie entweder aufgegeben werden mussten oder für längere Zeit außer Gefecht gesetzt waren. Das ist die Bilanz des 18. März 1915.

(Foto: unknown)

Am besten lässt man sich die Geschichte von Cihat Gündoğdu erzählen. Damit die richtige Stimmung aufkommt, hat er auf ein Kriegsschiff eingeladen, eine Korvette, die in seiner Heimatstadt Gölcük zum Museumsschiff umfunktioniert wurde. Hier kennt er jeden Winkel, in seiner Freizeit führt er Besuchergruppen durch die Decks. Wenn er von der Dardanellenschlacht erzählt, klingt er so aufgeregt, als sei er selbst dabei gewesen.

Es war fünf Uhr morgens, als die Nusret auslief, zehn Tage vor dem 18. März. Der leichte Nebel ging bald in Regen über. Der Kapitän drosselte die Maschine, damit so wenig verräterischer Rauch aus dem Schornstein aufstieg wie nur möglich.

Still und heimlich ließ die Besatzung die todbringende Fracht ins Wasser: Alle 15 Sekunden eine Mine, dort, wo die feindlichen Schiffe zu wenden pflegten, wenn sie die Befestigungsanlagen an Land unter Beschuss genommen hatten. "Die Stelle ist wie ein Wolfsmaul", erzählt Gündoğdu. Als wäre das alles nicht schon dramatisch genug, folgt dann die Geschichte von Kapitän Hakkıs Herzattacken, die er vor, während und nach der Mission gehabt habe.

Geschichtlich gesehen geht es um weit mehr als eine Fußnote - gerade für die Türken. In der Meerenge feierte das untergehende Osmanische Reich einen letzten großen militärischen Erfolg. Die Schlacht brachte auch noch einen anderen Volkshelden hervor: Oberst Mustafa Kemal, der heute als Vater der Türken verehrt wird: Atatürk.

In heller Uniform und mit Zigarettenspitze: Mustafa Kemal - der spätere Staatsgründer Atatürk - mit Offizieren Offizieren während der Kämpfe um Gallipoli. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Auf den Ruinen der Osmanischen Reiches gründete er später die moderne Türkei. Der britische Marineminister Winston Churchill, der den misslungenen Angriff zu verantworten hatte, sagte später einmal, die kleine Nusret habe die Welt verändert.

Am 25. April versuchten die Alliierten die Dardanellen einzunehmen, um von dort aus Konstantinopel erobern zu können. Auf der türkischen Halbinsel Gallipoli am Eingang der Meerenge lieferten sich osmanische Streitkräfte und alliierte Truppen erbitterte Gefechte; mehr als 130 000 Soldaten sollen gefallen sein. Noch heute liegen Knochen in jenem Boden, der innerhalb weniger Monate zu einem gigantischen Friedhof geworden war.

Kein Wunder, dass die Dardanellenschlacht bis heute eine geradezu mystische Bedeutung für die Türkei hat. Der 18. März wird in der Türkei als "Çanakkale-Tag" gefeiert, benannt nach der Provinz, in der die Meerenge liegt. Der 25. April ist Gallipoli-Tag in der Türkei. Eigentlich.

Dieses Jahr ist der Gedenktag allerdings auf den 24. April vorgezogen worden, weil die Geschichte der tapferen Kämpfer, die gerade auch fürs Kino in einem Actionfilm dröhnend in Szene gesetzt wurde, ein anderes, gar nicht ruhmreiches Kapitel des Ersten Weltkrieges übertönen soll: den Völkermord an den Armeniern. Sein Beginn jährt sich an diesem Tag zum 100. Mal.

Genozid an Armeniern 1915
:Vertrieben, verhungert, verdurstet

Vor hundert Jahren wurden im Osmanischen Reich bis zu 1,5 Millionen Armenier ermordet. Die Türkei weigert sich bis heute, von einem Genozid zu sprechen. Auch Deutsche haben sich damals schuldig gemacht.

Von Christiane Schlötzer

Überall auf der Welt gedenken Menschen der bis zu 1,5 Millionen Armenier, die bei Massakern und Deportationen umgekommen sind. Die Türkei weigert sich bis heute, die Gräueltaten als Genozid anzuerkennen. So ist eine absurde Schlacht um das Gedenken in der Türkei entbrannt. Gallipoli läuft auf allen Kanälen. Wenn sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan aus Brüssel anhören muss, er solle die Verbrechen an den Armeniern anerkennen, lässt er ausrichten, die Kritik gehe zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.

Es hat wenig Sinn, mit Cihat Gündoğdu darüber zu diskutieren. Für ihn ist der Erste Weltkrieg eine einzige, große Heldentat seiner Familie. Am Çanakkale-Tag durfte er als Kind in der Schule von seinen Gefühlen berichten. "Ich war immer sehr stolz. Das ist keine Last für mich." Im Gegenteil.

Die deutschen Kollegen hielten ihn für einen Spinner

Zurzeit arbeitet er an einem Buch über seinen berühmten Vorfahren, Boğazın Kahramanı soll es heißen, "Held der Meeresenge". "Als Familie fühlen wir uns auch verantwortlich, die Erinnerung wachzuhalten", sagt er.

Sie halten sie aber nicht nur wach. Sie leben darin. Man muss sich nur das Wohnzimmer von Cihat Gündoğdus Großvater Mehmet anschauen, dem Enkel des Nusret-Kapitäns. Ein alter Mann sitzt auf seinem Sofa inmitten eines Privatmuseums.

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(Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Türkische Soldaten vor dem Denkmal der Märtyrer in Çanakkale.

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(Foto: Mark Kolbe/Getty Images)

Foto eines Australiers, der für die Alliierten in der Schlacht von Gallipoli kämpfte.

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(Foto: Australian War Memorial/AFP)

Australische Soldaten in ihren Schützengräben: 100 000 Mann fielen während der Kampfhandlungen, 250 000 wurden verwundet.

An der Wand neben dem Ofen hängen Auszeichnungen und ein Gemälde des Nusret-Kapitäns mit geschwungenem Schnauzbart. Ein Modell des Minenlegers steht auf dem Sofatisch. Der Großvater erzählt, wie türkische Generäle bei ihnen ein und ausgingen und er als Kind im Hafen von den Offizieren Sütlaç bekam, einen süßen Nachtisch.

Kapitän Hakkı war im Herbst 1915, nur ein halbes Jahr nach dem legendären Manöver, an seinem Herzleiden gestorben. Er wurde nicht einmal 40 Jahre alt. Atatürk schenkte den Hinterbliebenen später aus Dankbarkeit Land in Gölcük. Die Familie hatte ein Auskommen, leicht hatte sie es deshalb nicht immer. Cihats Großvater kam 1969 als Gastarbeiter nach Deutschland.

Erst arbeitete er bei dem Maschinenbaukonzern MAN in Nürnberg an der Metallpresse, dann ging er des Geldes wegen ins geteilte Berlin zu einer Baufirma. Wenn er seinen Kollegen erzählte, dass sein Großvater ein Kriegsheld war, hielten sie ihn für einen Spinner. Jetzt lebt er wieder in seiner Heldenwelt in einem einfachen Haus in Gölcük.

Türkische Linieninfanterie in ihren ersten provisorischen Verteidigungsstellungen nach der Landung der Alliierten auf den Dardanellen. Ein monatelanger und erbitterter Stellungskrieg folgt, der mit einem Sieg der osmanischen Truppen endet. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Heute erinnert man sich nur noch an großen Jahrestagen an Cihats Familie. Zur Premiere des Kinofilms über die Dardanellenschlacht wurden sie eingeladen und durften mit den Schauspielern reden. Cihat träumt davon, zur Marine zu gehen. Für die Kapitänsausbildung waren aber seine Noten nicht gut genug. Da half auch die Herkunft nichts.

Er hat sich dann auf Handelsschiffen ausbilden lassen und kann - je nach Größe des Schiffes - als dritter oder vierter Mann auf der Brücke arbeiten. Man merkt ihm an, dass ihm das nicht genug ist.

Aber er ist ja noch jung. Und seine Geschichte ist noch nicht geschrieben.

© SZ vom 24.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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