Benjamin Clementine:Die Stimme aus der Métro

Benjamin Clementine

Spricht leise, singt aber laut und herzzereißend: Der 26-jährige Benjamin Clementine.

(Foto: Caroline)

Benjamin Clementine ist der Popstar der Stunde. Auch weil die Geschichte des 26-jährigen Briten eine Verfilmung wert ist.

Von Erik Brandt-Höge

Türen quietschen, schlagen zusammen. Das Geräusch von Metall, das auf Metall reibt. Drum herum: ein Stimmenschwarm. "Können Sie mich verstehen? Hören Sie mich?", fragt Benjamin Clementine, der zur Rush Hour aus einem Pariser Metro-Schacht anruft. Der berühmten Unterwelt, in der der 26-Jährige, wie er selbst sagt, "vor fünf Jahren neu geboren wurde." Dort, in den engen Gängen, den immer vollen Waggons, habe er "endlich angefangen, zu leben."

Benjamin Clementine ist der Popstar der Stunde. Er ist Gast auf den großen europäischen Bühnen, Festivals und in wichtigen Fernsehshows. In seiner Wahlheimat Frankreich wurde er kürzlich bei den "Victoires De La Musique", den französischen Musikpreisen als bester neuer Künstler ausgezeichnet. Sein erstes Album "At Least For Now", das in der vergangenen Woche erschienen ist, wurde zum Kritikerliebling und verpasste nur knapp die Top Ten der französischen Charts.

Ein Song darauf ist "Condolence". Das sechseinhalbminütige, theatralisch-schöne Stück ist eine Hymne auf Clementines Neustart in Paris: "Out of absolutely nothing, I, Benjamin, I was born." Davon singt er immer wieder in seinen Liedern, zu denen er sich selbst am Klavier begleitet. Seine Stimme klingt so stark nach Nina Simone wie nach Jimi Hendrix, ist mal ganz warm und weich und bricht dann aus, wird zum vibrierenden Schrei.

"Ich spreche leider sehr leise", sagt Clementine am Telefon, und tatsächlich: das ist leise, das ist eigentlich nur ein Flüstern. Ganz anders als man es erwartet, bei dem, was Clementine, im Stande ist, stimmlich zu leisten. Clementine wuchs in Edmonton auf, dem ehemaligen Londoner Arbeiterviertel, das heute multikulturell ist und bekannt für seine überdurchschnittliche hohe Arbeitslosenquote. Er ist das jüngste von fünf Kindern ghanaischer Eltern. Ein stilles Kind sei er gewesen, sagt er. Enorm schüchtern: "Mit anderen zu sprechen, fiel mir sehr schwer."

Er sollte Anwalt werden - "ein ewiges Missverständnis".

Statt sich um soziale Kontakte zu kümmern, blieb Clementine lieber allein. Teilte sich niemandem mit, auch nicht den Eltern, die wiederum Clementine gegenüber umso deutlicher wurden, wenn der mal wieder die Schulaufgaben nicht gemacht und sich lieber das Klavier-, Gitarre- und Schlagzeugspielen selbst beigebracht hatte. Schließlich sollte er Anwalt werden. "Ein ewiges Missverständnis", findet Clementine heute.

Heute hört man ihn. "Und zwar ohne eine Gesangsstunde genommen zu haben", betont er, und dieses Mal doch etwas lauter, stolzer.

Nach dem einen Streit mit den Eltern, der zu viel für ihn war, ging er weg aus London und zog nach Paris. "Hier durfte ich plötzlich sein, wie ich sein wollte: Jemand, der sich austoben will. Der frei denken will. Der kämpfen will. Und lieben." Und so klischeehaft und kitschig das klingt, so viel harte Wahrheit steckt in Clementines Sätzen, denn kämpfen musste er wirklich, nicht zuletzt ums Überleben.

Benjamin Clementine

"I am lonely, alone in a box of stone", singt Benjamin Clementine im Song "Cornerstone" über sein Straßenleben.

(Foto: Micky Clement)

Wie er die Obdachlosigkeit überlebte? Weiß er nicht mehr.

Am schlimmsten sei das Wetter gewesen, speziell der Pariser Winter, sagt Clementine, der zeitweise obdachlos war. Ohne einen Platz zum Schlafen, ohne zu wissen, wann und wie er etwas zu essen bekommen würde. "I am lonely, alone in a box of stone", singt er in seinem Song "Cornerstone" über das Straßenleben. Aber er singt auch: "It's my home." So schleppte er sich von Tag zu Tag, hielt irgendwie durch. Wie genau? "Weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es ... mein dickes Blut. Vielleicht war es mein Körper. Oder mein Kopf. Vielleicht bin ich ja auch ein Genie." Ein kurzes Lachen dringt durch das Metro-Sound-Gewusel durchs Telefon.

Irgendwann habe er keine andere Wahl mehr gehabt, sagt Clementine, und "den einfachsten Weg zu etwas Essbarem" genommen: die Métro. Stellte sich in einen Waggon und fing einfach an zu singen. Einmal, zweimal, dreimal am Tag. Und immer mit Erfolg: Zuerst kam die Metro, bald Einladungen zu Privatpartys, in Pubs und kleine Clubs. "Ich musste allerdings erstmal lernen, diese Aufmerksamkeit zu genießen. Ich habe schließlich nur angefangen zu singen, um irgendwie durchzukommen."

Clementine stockt kurz, als er das sagt. Dann klingt er wieder selbstbewusst: "Andere, die das erlebt haben, was ich erlebt habe, wären bis dahin vielleicht gar nicht gekommen. Andere hätten an meiner Stelle nicht so lange durchgehalten und sich womöglich etwas angetan. Weil sie nicht so lange hätten leiden wollen."

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