Digitalisierung:Warum Deutschland die Industrie neu denken muss

Renate Künast

"Die nächste industrielle Revolution wird alle Bereiche verändern. Wir brauchen mehr als einzelne Unternehmensstrategien": Renate Künast.

(Foto: dpa)
  • Welche Interessen verfolgt die deutsche Wirtschaft in der neuen digitalen Gesellschaft? Ein Silicon Valley nach US-Vorbild fehlt hier bislang.
  • Es geht um weit mehr als neue Geschäftszweige: Die Digitalisierung kann neue Jobs und eine nachhaltige Produktion und Lebensweise schaffen.
  • Doch auch Global Player werden es allein nicht schaffen.
  • Bürgerrechte müssen dabei aus dem Analogen mitgenommen werden.

Von Renate Künast

Wer mitreden will über die Digitalisierung der Gesellschaft, muss reisen. Ich hab's getan und bin klüger zurückgekommen: Es gibt in den USA keine einheitliche Meinung zur NSA-Überwachung auch nicht zum Verhältnis Datenschutz und Wirtschaft. Und es braucht mehr als Industrie 4.0.

Die Ostküste redet über Terrorismusbekämpfung und meint grenzenloses "Mitlesen". Die Westküste dagegen entwickelt neue Technologien, redet über die Digitalisierung aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche und das Vertrauen ihrer Kunden. Für die meisten Big Player gilt: Die Daten, mit denen sie umgehen, sind die ihrer Kunden, ob Business oder Privatkunden. Kein Wunder, denn viele machen ein Drittel ihres Umsatzes in der EU. Für andere Staaten gilt, wessen Datenschutz in Deutschland akzeptiert wird, der gilt als akzeptabel. Auf den tausenden Kilometern zwischen Ost- und Westküste herrscht also extrem dünne Luft. Die Aktivitäten der NSA durch die Hintertür haben bei den Unternehmen das starke Gefühl verursacht, hintergangen worden zu sein.

Lobbyarbeit gegen Kundeninteressen?

Mit einer Einladung zu Obama ist das nicht aus der Welt zu räumen. Nicht zu vergessen ist: Die meisten der Anbieter leisten ihre Dienste gegen Entgelt. Mit den Daten ihrer zahlenden Kunden Geld verdienen, das dürfen oder wollen sie nicht. Ihr Geschäft heißt: sichere Kommunikation und gegen fremde Zugriffe sicheres Speichern. So war es eine Katastrophe, als öffentlich wurde, dass bindende Unternehmensregeln angesichts des Gebarens der Geheimdienste nichts wert sind. Die CEOs sagen, sie waren ahnungslos, als plötzlich wegen Snowden Fragen von Journalisten auf sie einprasselten, die nicht glauben wollten, dass die Internetunternehmen nicht wissen, wer sie da systematisch anzapft. Dieses "westcoast-movement" klagt nun auf gesetzliche Regelungen, um die Herrschaft des Rechts wieder herzustellen.

Zur Person

Renate Künast, 59, sitzt seit 2002 für die Grünen im Bundestag und war unter anderem Landwirtschafts- und Verbraucherschutzministerin und Vorsitzende ihrer Partei. Im April war sie mit einer Parlamentariergruppe im Silicon Valley.

Uns bleibt die Frage, warum die Bundesregierung gegenüber der US-Regierung eine devote Nibelungentreue an den Tag legt, statt eigene Rechtsstaats- und Wirtschaftsinteressen zu verfolgen. Auch: Wie stellt sich die Wirtschaft bei uns ihre Zukunft vor? Nichts als Lobbyarbeit gegen Kundeninteressen bei der EU-Datenschutzverordnung? Und der Glaube, es ginge zukünftig nur um die größtmögliche Ausschöpfung von Big Data, dann werde schon Innovation folgen? Ich denke: Alle schauen auf Silicon Valley, aber wenige haben verstanden.

Verteidigung, PC, Internet, "connecting people" - und morgen Big Data

Es geht um weit mehr als "Industrie 4.0", um mehr, als nur zusätzliche Unternehmenszweige zu eröffnen. Im Gegenteil: Es geht um die Digitalisierung aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche. Der ganze Marktplatz wird sich digitalisieren, Städte, Stromleitungen, die Art einzukaufen oder Wissen zugunsten der Patienten einzusetzen. Wer heute als Unternehmen groß ist, muss es morgen nicht mehr sein. Eine singuläre Digitalindustrie wird es nicht geben, sondern neue Anwendungen. Vielleicht kauft eines Tages Uber eine internationale Fluggesellschaft oder ein Softwareanbieter einen deutschen Autohersteller?

Die nächste industrielle Revolution wird alle Bereiche verändern. Wir brauchen mehr als einzelne Unternehmensstrategien. In den 1950er Jahren war Verteidigung Antreiber für Entwicklung, in den 1980er Jahren kam der PC, dann das Internet, zu Beginn des Jahrtausends hieß es "connecting people" , die Gegenwart verbindet Maschinen, die Zukunft heißt Big Data (legal) zu sammeln und damit Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Neues Denken und neue Kooperationen

Werden führende Unternehmen auch in Deutschland entstehen? Was hat das Silicon Valley strukturell voraus? Eine Universität, die bestens mit Unternehmen kooperiert. Ein Tal, in dem Risikokapitalgeber Büros haben und Startups mit offenen Türen erwarten. Scheitern ist da keine Größe, sondern das Prinzip des Versuchs. Flankiert durch eine Gesetzgebung, die das Small Business und Startups im digitalen Bereich ausdrücklich unterstützt und 1979 den Pensionsfonds erlaubte, in Venture Capital zu investieren. "Das Neue" wird fast spielerisch entworfen. Ein ungeheures Potenzial um die Art wie wir wohnen, produzieren und transportieren zu verändern. Das schafft Jobs und kann mehr an nachhaltiger Produktion und Lebensweise bringen.

Was ist zu tun? Deutschland und Europa brauchen ein neues Denk-Design, damit wir neue Lösungen finden für die Probleme des Alltags. So was findet nicht allein zwischen einem DAX-Vorstand und der Forschungsabteilung statt. Es braucht mehr.

Quasi neue Kooperationen brauchen wir zwischen altem Gewerbegebiet und Universität. Früher ging man zum Schmied im Ort, dann kam die Massenproduktion und Gewerbegebiete. In Zukunft bringt der 3D-Druck die Produktion wieder in die Städte. Das sind neue Chancen fürs Stadtleben und die Reduzierung von Verkehr. Und der e-commerce, mit dem von der heimischen Couch aus nicht irgendwo, sondern in den Geschäften meines Stadtteils geordert wird. Wo werden aber die neuen Städte bei uns vernetzt entwickelt? Wo findet so ein Diskurs statt?

"Industrie 4.0" sagen und Gelder rauswerfen - das reicht nicht

Auch: Wo ist die EU-Urheberrechtsreform, die den digitalen 3D-Entwurf schützt, wenn dieser und nicht das fertige Produkt Schutz braucht? Beim selbstgedruckten Spielzeug fängt es an, bei sicherheitsrelevanten Ersatzteilen von Autos oder Flugzeugen wird es richtig ernst. Wenn jeder einen 3D-Drucker hat, geht es ganz existenziell um Sicherheit. Wir sind darauf nicht vorbereitet.

Wo werden Wissenschaft und Ärzte zusammengebracht für mehr Behandlungserfolge? Programme, die in Minuten das weltweite Wissen zur individuellen Krebstherapie analysieren, gibt es schon in den USA durch Projekte von Universität und Unternehmen. Für so was braucht es keine Hintertür zur Datennutzung, wie manche uns in Deutschland noch einreden wollen. Die Einwilligung des jeweiligen Patienten reicht - wie im analogen Leben auch.

Bleibt noch die Cyber-Sicherheit. Unabhängig vom BND braucht es einen Prozess von Teams, die täglich Angriff und Abwehr "durchspielen". Es geht um einen ständigen Prozess, nicht um ein behördlich zu zertifizierendes Produkt.

"Industrie 4.0" zu sagen und staatliche Gelder rauszuwerfen, reicht nicht. Auch große Player werden es im globalen Wettbewerb nicht allein schaffen. Wir brauchen neue Strukturen, neue Netzwerke, mehr Raum für kreative Entwicklungen. Wer allerdings nur vermeintliche Schürfrechte bei Big Data ausbeuten will, wird auf Dauer nicht bestehen. Die Folgen langer Missachtung gesellschaftlicher Interessen haben die (vormals großen) Energiekonzerne bitter erfahren.

Es geht darum, eine nachhaltige Digitale Gesellschaft aufzubauen, heißt: das Design unseres Denkens und Handelns neu justieren und die Bürgerrechte vom Analogen ins Digitale mitnehmen.

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