Klassik:Die Chemie stimmt

Klassik: Musik ist harte Arbeit: Lang Lang und Dirigent Andris Nelsons bei der Probe für ihr Münchner Konzert.

Musik ist harte Arbeit: Lang Lang und Dirigent Andris Nelsons bei der Probe für ihr Münchner Konzert.

(Foto: Peter Meisel)

Klangwelt mit Feen und Kobolden: Starpianist Lang Lang glänzt mit den Symphonikern des Bayerischen Rundfunks unt Dirigent Andris Nelsons in München.

Von Helmut Mauró

Die Erwartungen? Gemischt. Wen will man mit Peter Tschaikowskys b-Moll-Klavierkonzert noch überraschen? Wie viele große Pianisten haben die vollgriffigen Anfangsakkorde nicht schon schwungvoll in die Klaviatur gedonnert, sind dem Orchester samt Dirigenten in vorauseilender Effektlaune stolpernd enteilt wie einst Horowitz seinem künftigen Schwiegervater Toscanini? Und wieso erleben wir nun in der Münchner Philharmonie den chinesischen Pianisten Lang Lang so aufgeräumt, diszipliniert, souverän und in völligem Einklang mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks? Liegt es an diesem hochgewachsenen, vielleicht ein bisschen zu hoch geschossenen, schlaksigen jungen Dirigenten Andris Nelsons aus Lettland, der jeden Einsatz, ja beinahe jede Klangnuance in die Luft malt, als müsse er noch einmal ganz von vorne anfangen, dem Orchester und vielleicht auch dem Publikum ein so bekanntes Werk so ausführlich wie möglich zu erklären?

Für die Galerie gibt es Aufreger: donnernde Doppeloktaven und explodierende Akkorde

Eines ist schnell klar: Dirigent und Pianist haben große Lust auf dieses Stück, sie wollen es nicht neu deuten und auf einmal ganz anders klingen lassen, sondern sie wollen selber hineinfinden und hineinstürzen in dieses romantische Abenteuer fülligen Wohllauts - aber sich darin nicht erschöpfen. Man kann, und das ist die eigentliche Überraschung des Abends, die Lust am Klang und an der melodischen Erzählung sehr wohl verbinden mit tiefergehenden Einsichten und Aussichten, selbst wenn man als Tastenclown verschrien ist und keinen Knalleffekt auslässt, wovon dieses Konzert auch hinreichende bietet. Dann reißt Lang Lang die rechte Hand von den Tasten, als hätte er eine heiße Herdplatte erwischt.

Gleichzeitig schaut er ruhig in die vorderen Reihen des Publikums, freundlich, als suche er direkten Kontakt und noch mehr Aufmerksamkeit, als ihm ohnehin zuteil wird. Manchmal schließt er auch die Augen und schaut in sich hinein, dirigiert mit geschmeidigen Handgelenksbewegungen wie in Trance ein bisschen mit, wenn er sonst nichts zu tun hat. Es ist aber nicht alles Clownerie, was danach aussieht. Plötzlich hebt er die linke Hand in Richtung Soloklarinettist. Der möge doch bitte zu ihm schauen, schließlich geht es an dieser Stelle nur um sie beide. Lang Lang, das freundliche Kommunikationsgenie.

Und immer gleichzeitig mit allen im Bunde: ganz offensiv mit dem Orchester und dem Publikum, eher unterschwellig aber nicht weniger direkt mit dem Dirigenten - und sich selbst. Für die Galerie muss es hin und wieder ein paar Aufreger geben, rasante Läufe, donnernde Doppeloktav-Kaskaden, explodierende Akkorde. Für ihn selbst, und das ist man so gar nicht gewohnt von ihm, gibt es neuerdings einen größer werdenden Bezirk der leisen Tonwelt, der versonnenen Klanginseln, der verschlungenen melodischen Nebenwege. Ganz verliebt spürt er den Verästelungen des Andantino nach. Und am glücklichsten ist er, wenn alles zusammenkommt: die unterschwellige Klangkunst, die weit ausholende melodische Erzählung, die farbigen Harmonieflächen dahinter und - die krachende Überraschung. Beim Wiedereintritt des Orchesters nach der Kadenz im ersten Satz ist so eine Stelle, an die sich Lang Lang herantastet wie ein staunendes Kind, und hier ist ja auch so eine musikalische Kinderwelt zwischen Nussknacker-Suite und Ravelscher Verspieltheit, und auf einmal dreht sich alles immer schneller, Skrjabin scheint nicht fern zu sein. Jedenfalls klingt das so bei Lang Lang, und der ist hier nicht nur sehr unterhaltsam, er zeichnet auch eine in diesem Tschaikowsky-Konzert selten zu hörende hermetische Klangwelt mit Feen und Kobolden, die zwitschern und trillern, mal mit der rechten Hand, mal mit der linken, die eine auf den Tasten, die andere in der Luft.

Das gibt's nur bei Lang Lang. Und es ist keineswegs oberflächlich oder fishing for side effects, sondern ganz substanzielles halbironisch und selbstironisch gebrochenes bieder-böses Kasperltheater. Natürlich kann man auch das noch übertreffen. Lang Lang lehnt sich nach hinten, dehnt den Oberkörper, streckt die Armmuskeln, um urplötzlich loszudonnern in Fortissimo-Staccatissimo-Doppeloktavläufen.

Rauschender Kehraus. Ob dies in der Radio-Aufzeichnung alles so unmittelbar rüberkommt? Viele Abonnenten der Donnerstag-Reihe hätten das auch gerne gehört. Aber Lang Lang war nicht erschienen. Der Pressesprecher der BR-Sinfoniker möchte nicht, dass man schreibt, Lang Lang habe seinen Auftritt wegen eines kurzfristigen Engagements bei der Eröffnungsfeier der Mailänder Expo abgesagt. Vielleicht war dieses Engagement auch gar nicht kurzfristig, sondern wurde nur den Abonnenten relativ spät als "Programmänderung" mitgeteilt? Erfahrungsgemäß wird da vieles den Künstlern in die Schuhe geschoben.

Was die Künstler der BR-Sinfoniker betrifft und ihren neuen Lieblings-Gastdirigenten, so muss man nach einer insgesamt furiosen Vierten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch feststellen: Die Chemie zwischen Orchester und Dirigent stimmt. Die Akustik auch. Nur im letzten Drittel, da gab es dann plötzlich Längen, da schienen die Musiker mental ein wenig müde zu sein und häkelten die kontrapunktischen Muster vor sich hin, als wäre es eine Strafarbeit oder eine pflichtschuldige Überbrückungsmaßnahme bis zum nächsten Großeinsatz. Erst gegen Ende frischte die geistige Brise wieder auf, nachdem klar war, dass es keinen allzu bombastischen Klangschluss geben würde.

Schade, am Ende aber doch tröstlich. Dieses Orchester kann alles spielen, scheint in den letzten Jahren aber zu sehr auf klanglichen Krawall gebürstet zu sein, um auch weniger spektakuläre Musik so darzubieten, dass sie der Sache und auch einem durchaus neugierigen Publikum gerecht wird. Das sollte sich bald mal wieder ändern. Möge ein neuer Konzertsaal dabei helfen - obwohl man ihn dafür eigentlich gar nicht braucht.

Der Konzertmitschnitt ist noch bis Freitag abrufbar unter http://www.br.de/radio/br-klassik/sendungen/br-symphonieorchester/2015-konzert-on-demand-so-nelsons-langlang100.html

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