Bolivien:Sehnsucht nach Salzwasser

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Seit 136 Jahren verlangt Bolivien von Chile einen Zugang zum Pazifik. Nun soll der Gerichtshof in Den Haag den Grenzstreit klären.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

In Bolivien ist vor Kurzem "El Libro del Mar" erschienen, das Buch vom Meer. Der Herausgeber findet, dass es jeder Bolivianer lesen sollte. Praktischerweise ist der Herausgeber auch der Staatspräsident. Evo Morales hat das Buch auf dem kleinen Dienstweg zur Pflichtlektüre in den Schulen erklärt. In der Präambel, die natürlich von Morales stammt, heißt es: "Bolivien wird niemals Ruhe geben, solange diese Angelegenheit mit dem Meer ungelöst ist."

Die Angelegenheit mit dem Meer beschäftigt die Bolivianer seit 136 Jahren, aber so groß wie dieser Tage war die Sehnsucht nach Salzwasser schon lange nicht mehr. 1879, im Salpeterkrieg, ankerten vor der bolivianischen Hafenstadt Antofagasta drei chilenische Kriegsschiffe. Die Invasoren schnappten sich die rohstoffreiche Atacama-Wüste und machten aus Bolivien einen Binnenstaat. Mit dem Friedensvertrag von 1904 akzeptierten beide Länder die neuen Grenzen, formell. Tatsächlich würde kein überzeugter Bolivianer damit jemals seinen Frieden schließen, Evo Morales am allerwenigsten.

Bolivien und Chile unterhalten keine diplomatischen Beziehungen. In dieser Woche treffen sich beide Länder vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Es geht um 1879 und 1904. Es gehe um Details aus alten Verträgen, an denen es nichts zu rütteln gibt, sagen die Chilenen. Es gehe um ein Menschenrecht, sagen die Bolivianer. Vermutlich gab es in den zurückliegenden 136 Jahren keinen bolivianischen Präsidenten, der nicht irgendwann ein Stück Küste von Chile gefordert hätte. Morales tut das nahezu täglich. Er weiß, dass sich in seinem Land kaum ein populäreres Thema auftreiben lässt. Auch die konservative Opposition spricht vom "Traum, der alle Bolivianer eint".

Der Traum ist längst eine kollektive Obsession. 39 bolivianische Künstler nahmen zuletzt einen Meeres-Zugangs-Song auf. Er heißt "Las Playas del Futuro", die Strände der Zukunft. Feierlich vorgestellt wurde das Lied am "Tag des Meeres", der jedes Jahr im Hochland von La Paz begangen wird. Auf dem Titicacasee dreht die bolivianische Kriegsmarine ihre Runden. Sie übt für den Ernstfall. Für den Tag, an dem Bolivien wieder am Meer liegt. Bis es soweit ist, wird es noch ein paar Manöver auf 3812 Metern Höhe geben müssen. Der IGH muss zunächst entscheiden, ob er in diesem Streit überhaupt zuständig ist. Die Chilenen bestreiten das. Es gebe keine offenen Grenzfragen, weil 1904 alles geregelt worden sei.

Nach Ansicht Boliviens ist das Abkommen unter Zwang unterzeichnet worden und deshalb ungültig. Der Ton wird schärfer. Der chilenische Oppositionspolitiker Jorge Sabag schaffte es in Bolivien auf die Titelseiten, indem er verkündete: "Chile hat mit Waffen mehr erreicht als mit Diplomatie." Der Mann ist Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses. Evo Morales kann solche Angriffe gut brauchen. Umso glaubwürdiger ist seine Rolle als Anführer einer Friedensmission. Demnächst will er sogar den Papst um Hilfe bitten, wenn dieser Bolivien besucht.

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