Berliner Philharmoniker:Die vergeigte Wahl

Warten auf neuen Chef der Berliner Philharmoniker

Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Vor der Jesus-Christus Kirche in Dahlem wollten die Berliner Philharmoniker den Namen ihres neues Chefdirigenten verkünden.

(Foto: dpa)

Nach zwölf Stunden Konklave ist in Berlin kein Rauch aufgestiegen, die Philharmoniker konnten sich nicht auf einen Nachfolger für Simon Rattle einigen. Den allseits versierten Dirigiermagier gibt es schon lange nicht mehr.

Kommentar von Reinhard J. Brembeck

Selbst in einem zwölfstündigen Beratungsmarathon haben sich die Berliner Philharmoniker nicht auf einen Kandidaten einigen können, der Simon Rattle von 2018 an als Chefdirigent nachfolgen soll. Offenbar ist das Orchester so grundlegend uneins, dass jeder Kandidat einen Affront für die eine oder andere Gruppierung innerhalb des Ensembles bedeuten und damit dessen Burgfrieden gefährden würde. Mit unzufriedenen Musikern aber lässt sich kein Staat machen und schon gar nicht die Spitzenposition im zunehmend härter umkämpften Orchestermarkt auf Dauer behaupten. Genau darum aber geht es: Die Berliner wollen auch weiterhin die Nummer eins sein und sie suchen einen Animator, der sie dazu befähigt. Dieser Animator aber muss ein Tausendsassa sein, der künstlerisches mit marktwirtschaftlichem Genie vereint.

Die heute über 70-jährigen Meisterdirigenten, also Zubin Mehta, Daniel Barenboim oder Mariss Jansons, sind noch Generalisten, die von Bach bis hin zu Uraufführungen alle Genres, Stilrichtungen und Nationalschulen mit bodenständiger Musikalität und dem mehr oder weniger gleichen Tonfall bedienen. Infolge der auf Spezifizierung gerichteten historischen Aufführungspraxis aber erwarten mittlerweile Publikum und Musiker, dass jedem Komponisten ein spezifischer Klang zugeordnet wird. Der große Einheitspinsel, mit dem die großen Alten durchs Repertoire fegen, wirkt deshalb zunehmend unzeitgemäß. Aber kein Dirigent ist fähig, für Haydn und Schostakowitsch, Franck und Nono, Brahms und Mozart den jeweils eigenen und adäquaten Tonfall anzubieten. Zudem soll ein Dirigent nicht nur ein musikhistorischer Fachverwalter sein, sondern auch noch mit genialen Einfällen glänzen.

Gesucht wird ein allseits versierter Dirigiermagier

All diese Eigenschaften gehören zum traditionellen Rollenbild eines Orchesterleiters. Klassische Musik aber bedeutet in der Regel nicht nur alte Partituren, sie ist und bleibt auch, daran ändern selbst Spotify und iTunes nichts, eine rein analoge Angelegenheit: Real anwesende Musiker spielen vor einem real anwesenden Publikum unter vollem Körpereinsatz auf herkömmlichen Instrumenten, die nicht verstärkt werden. Das ist eine analoge Welt par excellence, die mit der heutigen, zunehmend digitalisierten, globalisierten und leistungsorientierten, Welt immer öfter in Widerspruch gerät.

Die Berliner Philharmoniker aber wollen dezidiert beide Welten beherrschen. Sie wollen deshalb einen in allen Stilen bewanderten Dirigiermagier, der aber auch das Markenunternehmen Berliner Philharmoniker wie ein Firmenchef weiterentwickelt. Sie brauchen jemanden, der die Digital Concert Hall bedient, das hauseigene Label mit seinen in Aufnahmequalität erscheinenden Platten vermarktet, massiv Jugendarbeit betreibt, den Großbanksponsor bei Laune hält . . .

Dass es solch eine Alleskönner-Lichtgestalt, die die analoge mit der digitalen Welt aussöhnt, nicht gibt und auch nie geben wird, leuchtet ein. Der weltweit mit Spannung verfolgte Wahltag der Berliner hat genau dieses Grundproblem der klassischen Musik ins Bewusstsein katapultiert. Wenn sich die Berliner Philharmoniker also binnen Jahresfrist wieder zusammensetzen, um einen neuen Chef zu küren, dann werden sie das im Wissen tun, dass sie einer Chimäre nachgelaufen sind. Die Zeit der großen solitären Führergestalten ist ja nicht nur in der Musik vorbei, sie ist ein romantischer Anachronismus. Deshalb könnten die Philharmoniker sich jetzt vom Einzelführerprinzip verabschieden. Was spräche eigentlich gegen eine Doppelspitze? Und vielleicht sind ihnen ausgerechnet ihre größten Konkurrenten, die Wiener Philharmoniker, darin voraus, dass die sich nie mit der Idee eines Chefdirigenten anfreunden konnten.

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