Streckenüberwachung:Big Brother über der Autobahn

Streckenüberwachung: In Österreich ist die Section Control auf einigen Autobahnstrecken bereits seit 2003 im Einsatz.

In Österreich ist die Section Control auf einigen Autobahnstrecken bereits seit 2003 im Einsatz.

(Foto: A2918 apa Helmut Fohringer/dpa)

Gestern Radarfallen, bald "Section Control": Die Tempoüberwachung über eine längere Strecke kommt nach Deutschland. Verkehrsexperten versprechen sich sinkende Unfallzahlen, doch noch blockieren Datenschützer die Einführung des Systems.

Von Steve Przybilla

Big Brother? Damit kann Geoff Collins nichts anfangen. "Ich würde eher von einem Schutzengel sprechen, der die Menschen vor sich selbst bewahrt." Eine bizarre Vorstellung, aber was soll der Mann anderes sagen? Collins ist Firmensprecher von Vysionics, dem Marktführer von Verkehrskameras in Großbritannien. Seit 16 Jahren ist dort ein System im Einsatz, das im Laufe des Jahres auch nach Deutschland kommt: Section Control, die Geschwindigkeitsmessung über einen längeren Abschnitt. Paradoxerweise kennt diesen Begriff auf der Insel niemand. Section Control ist ein typischer Schein-Anglizismus, den es nur im Deutschen gibt.

Während Radarfallen nur an einem einzigen Punkt blitzen, lässt sich durch Section Control ein längerer Abschnitt überwachen. Dafür werden Verkehrsteilnehmer zweimal fotografiert: am Anfang und am Ende der betreffenden Strecke. Anhand der Zeit, die sie für den Weg benötigen, lässt sich ihre Durchschnittsgeschwindigkeit berechnen. "Das ist simple Mathematik", sagt Collins, "weshalb die Anlagen viel zuverlässiger arbeiten als Blitzer." Sein wichtigstes Argument hebt er sich bis zum Schluss auf, wie eine gute Pointe: "Die Unfallzahlen sinken dramatisch."

Deutlich weniger Unfälle

Auf der A9 in Schottland, wo im Oktober 2014 ein 220 Kilometer langes Streckenradar installiert wurde, sei die Zahl der Raser um 97 Prozent gesunken. Offenbar ist das mehr als nur eine PR-Phrase: Selbst der Chef der schottischen Verkehrspolizei räumte in einem BBC-Interview ein, das neue System habe einen "äußerst positiven Einfluss" auf die Fahrer. Drei Monate, nachdem die drei Millionen Pfund (4,1 Millionen Euro) teure Anlage installiert wurde, sei die Zahl der Unfälle bereits um ein Fünftel zurückgegangen.

Von solchen Zahlen beflügelt, will Niedersachsen als erstes Bundesland die Technik nach Deutschland bringen. Innenminister Boris Pistorius (SPD) verspricht sich davon vor allem einen Rückgang der Unfalltoten - im vergangenen Jahr waren diese in Niedersachsen auf 446 Personen gestiegen, ein Plus von 8,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Als Teststrecke soll ein drei Kilometer langer Abschnitt auf der B6 zwischen Gleidingen und Laatzen (bei Hannover) dienen. "Seit 2011 gab es dort 28 Verkehrsunfälle, bei denen insgesamt zehn Personen leicht, drei schwer und zwei sogar tödlich verletzt worden sind", heißt es aus dem niedersächsischen Innenministerium. Section Control werde nur an Unfallschwerpunkten zum Einsatz kommen, verspricht Pistorius. Was wohl auch am Geld liegen dürfte: 200 000 Euro kostet das System auf der drei Kilometer langen Strecke.

Datenschützer haben "noch etliche Bedenken"

Wann genau die ersten Raser erwischt werden, steht allerdings bis heute nicht fest. Mehrmals schon wurde der Zeitplan verschoben, nun soll es "ab Herbst" losgehen. Nach wie vor herrscht Unklarheit darüber, ob die Anlage die gesetzlichen Anforderungen an den Datenschutz erfüllt - noch hat die niedersächsische Datenschutzbeauftragte keine Betriebsgenehmigung erteilt: "Wir haben noch etliche Bedenken", sagt Barbara Thiel. So sei bislang nicht klar, ob die Fotos verschlüsselt würden, bevor sie das System per Funk an die Polizei übermittle. "Wir begleiten das Projekt konstruktiv", beteuert Thiel, "aber es gibt Fragen, die vorher beantwortet werden müssen." Auch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) hat noch keine Betriebsgenehmigung erteilt.

Gebaut wird die Anlage vom Thüringer Technologiekonzern Jenoptik, zu dem seit vergangenem Jahr auch der britische Kameraproduzent Vysionics gehört. Jenoptik betätigt sich schon lange im Section-Control-Geschäft, unter anderem in Österreich, wo die Kameras seit 2003 im Einsatz sind. Die hätten zu einer "erfreulichen Tempodisziplin" geführt, sagt die österreichische Autobahngesellschaft Asfinag. Im Kaisermühlen-Tunnel, wo die erste Anlage dieser Art installiert wurde, sei das Durchschnittstempo um 15 km/h zurückgegangen. Auch habe es seither keine Todesopfer mehr gegeben. Erfreuliche Zahlen gibt es auch aus Italien. Das System ist dort unter dem Namen Tutor auf einer Länge von 2500 Kilometern im Einsatz. Im ersten Jahr sei die Zahl der Unfälle um 19 Prozent zurückgegangen, so der Autobahnbetreiber Autostrade per l'Italia.

"Effiziente Methode der Geschwindigkeitsüberwachung"

section control

Die Funktionsweise der Section Control. Grafik: Julian Hosse

Es ist also durchaus verständlich, dass Verkehrsexperten die neue Technik begrüßen. "Das ist ein gescheiter Ansatz", sagt Rainer Hillgärtner, Sprecher des Automobilclubs Europa (ACE), "denn 30 Prozent aller Unfälle gehen auf zu schnelles Fahren zurück." Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) und der Verkehrsgerichtstag in Goslar sprechen sich ebenfalls für Section Control aus. Der European Transport Safety Council (ETSC) hat vor sechs Jahren die unterschiedlichen Systeme in Europa verglichen. Das Resultat: Section Control sei eine "effiziente Methode der Geschwindigkeitsüberwachung".

So verlockend die Wunderwaffe gegen Raser sein mag, so groß ist auch das Misstrauen. "Geschwindigkeitskontrollen können niemals den gläsernen Autofahrer rechtfertigen", mahnt etwa der niedersächsische FDP-Landtagsabgeordnete Jörg Bode. In Schleswig-Holstein, wo die Landesregierung ebenfalls mit Section Control liebäugelt, kämpft die Piratenpartei massiv dagegen an. "Nach geltendem Recht ist es illegal, gesetzestreue Autofahrer zu fotografieren", kritisiert der Landtagsabgeordnete Patrick Breyer. "Section Control ist teuer, fehleranfällig und leistet einer zukünftigen Zweckentfremdung der Daten Vorschub - bis hin zur Erstellung von Bewegungsprofilen."

Typisch deutsch ist diese Sorge indessen nicht. Auch in Österreich gab es massive Bedenken, als die Technik eingeführt wurde. Am Ende bestätigte der Verfassungsgerichtshof deren Rechtmäßigkeit, knüpfte den Einsatz aber an hohe Hürden: So müssen die Daten von denjenigen, die sich ans Tempolimit halten, an Ort und Stelle gelöscht werden. Auch müssen die Abschnitte, auf denen Section Control eingesetzt wird, deutlich gekennzeichnet werden. Selbst in Großbritannien, das nicht gerade für strenge Datenschutzregeln bekannt ist, regte sich Widerstand, als die Pläne für die Überwachung der 220 Kilometer langen A9 bekannt wurden. Gebracht hat es am Ende nichts.

Strenge Regeln zur Nutzung der Daten

In Deutschland ist die Nutzung der Fotos an strenge Auflagen gebunden. So dürfen die erfassten Daten nur zur Überwachung der Geschwindigkeit genutzt werden, nicht aber zur Verfolgung anderer Straftaten. Liegt kein Verstoß vor, müssen die Fotos an Ort und Stelle gelöscht werden, wie in Österreich. Doch der NSA-Skandal hat gezeigt, wie schnell sich selbst vermeintlich sichere IT-Systeme unterwandern lassen. "Hinter der Einführung solcher Technologien steht mit Sicherheit auch das Interesse der Sicherheitsbehörden an den entstehenden personenbezogenen Kfz-Daten", sagt der grüne Europa-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht.

Der Blick nach Großbritannien zeigt, dass solche Vermutungen nicht so weit hergeholt sind. Zwar dürfen auch dort die Section-Control-Kameras nur genutzt werden, um Tempoverstöße festzustellen. Oft hängt direkt daneben aber eine weitere Kamera, die Nummernschilder automatisch erfasst und mit einer Polizei-Datenbank abgleicht. Firmensprecher Geoff Collins sieht darin kein Problem: "Am meisten machen sich immer diejenigen Sorgen, die am wenigsten zu befürchten haben."

Ein weiteres Detail bestätigt er hingegen erst auf Nachfrage: Die Kameras, die die Polizei zur Nummernschild-Erkennung nutzt, werden ebenfalls von Vysionics gebaut. Es sind sogar die gleichen Modelle, die beim Streckenradar zum Einsatz kommen - nur mit einem anderen Zweck.

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