Hintergrund zum Projekt #Kunstjagd:Drama an der Schweizer Grenze

Schweiz; Flüchtlinge

Jüdische Flüchtlinge auf ihrem Weg in die Schweiz (undatierte Aufnahme)

(Foto: SZ Photo)

In Nazi-Deutschland müssen Juden um ihr Leben fürchten. Helfen oder nicht - die offizielle Haltung der Schweiz war geprägt von Angst und Restriktion. Aber ein paar Aufrechte retten zahlreiche Menschen vor dem sicheren Tod.

Ein SRF-Beitrag zum internationalen Rechercheprojekt - Woche 4, Zürich

Mit der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 setzte ein Massenexodus von Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, engagierten Christen, Intellektuellen und Künstlern aus Deutschland ein. Die Schweiz stellte dies vor noch nie dagewesene Probleme.

In der Folge wurden die Grenzen geschlossen. Die Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen und politisch Verfolgten wurde restriktiver. Die Schweiz sah sich in erster Linie als Erstaufnahme- und Transitland. Um die Flüchtlinge zur Weiterreise zu bewegen, durften sie keinem Erwerb nachgehen. Mit dem Anschluss Österreichs und den Pogromen im November 1938 stieg die Zahl der Flüchtlinge aus Deutschland weiter an - insbesondere die Zahl derer mit jüdischer Abstammung. Auch die Familie Engelberg, um deren Schicksal das Projekt #Kunstjagd kreist, floh nach der Reichspogromnacht über die Schweiz in die USA.

Das Projekt

Die #Kunstjagd ist ein Projekt des Rechercheteams "Follow the Money" (FtM) in Kooperation mit der Filmproduktion Gebrüder Beetz, in dessen Mittelpunkt die Suche nach einem verschollenen Gemälde steht. Die Medienpartner BR, Deutschlandradio Kultur, ORF, SRF, Der Standard, Rheinische Post und SZ.de begleiten die Recherche. In einem 360°-Schwerpunkt halten wir Sie über Fortschritte auf dem Laufenden und beleuchten die Hintergründe. Weitere Informationen unter www.kunstjagd.com und www.sz.de/kunstjagd.

Der J-Stempel

Zunächst führten die Schweizer Behörden die Visumspflicht für alle deutschen Staatsangehörigen ein. Die deutschen Behörden befürchteten aber, dass andere Staaten diesem Beispiel folgen könnten und damit der Reiseverkehr ins Ausland eingeschränkt würde. In den Verhandlungen schlug Berlin schließlich vor, nur die Pässe der deutschen Juden zu kennzeichnen.

Die Schweizer Delegation hatte rechtliche und ethische Bedenken gegen Maßnahmen, die nur gegen Juden gerichtet waren. Doch aus wirtschaftlichen und außenpolitischen Gründen akzeptierte der Bundesrat am Ende den deutschen Vorschlag und widerrief die Visumspflicht. Im Gegenzug machte sich Deutschland unverzüglich daran, Pässe deutscher Juden zu kennzeichnen - mit dem sogenannten "Judenstempel". Im August 1942 kam der Schweizer Entscheid, Flüchtlinge aus "Rassengründen" seien grundsätzlich abzuweisen. Erst gegen Ende 1943, als sich die Niederlage der Achsenmächte abzeichnete, lockerten die Behörden ihre restriktive Politik allmählich wieder.

Allerdings: Zu dieser Zeit war die Gefährdung der Juden in Nazi-Deutschland längst bekannt. Und nicht alle in der Schweiz waren mit dieser unmenschlichen Flüchtlingspolitik einverstanden.

Rettung durch Schweizer Fluchthelfer

Sie versuchten durch eigene Initiative der restriktiven Haltung ihres Landes etwas entgegenzusetzen. Ob Polizeikommandanten, Wissenschaftler, Diplomaten oder Arbeitslose: "Ein eigentliches Profil eines Fluchthelfers lässt sich nicht erstellen", sagte Gregor Spuhler 2014 in einem Interview mit SRF News. "Sie stammen aus allen sozialen Schichten." Spuhler ist Leiter des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich. Von 1997 bis 2000 war er Mitglied der "Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg".

Der Archivleiter teilt die Fluchthelfer in zwei Kategorien ein, was ihre Motive anbelangt: "Die einen waren sogenannte Passeure". Das waren Menschenschmuggler, meist Personen aus armen Verhältnissen, beispielsweise Fischer. Sie erhofften sich so einen Nebenverdienst. Der Lohn sei aber eher bescheiden ausgefallen, sagt Spuhler. Ertappte wurden hart bestraft - mit bis zu einem halben Monatslohn Bußgeld oder mehreren Dutzend Tagen Haft.

Rettung vor dem sicheren Tod

"Andere handelten aus Solidarität mit den verfolgten Gruppen, denen sie sich zugehörig fühlten", erklärte Spuhler: Sie waren selbst Juden, Katholiken, Protestanten, Kommunisten oder Sozialdemokraten, oder fühlten sich diesen verbunden. Viele dieser Helfer sind namentlich nicht bekannt - bis auf wenige Ausnahmen.

"Er rettete vor dem Zweiten Weltkrieg vielen verfolgten Menschen das Leben", heißt es auf einer schlichten Tafel in St. Gallen. Mit ihr ist der frühere Polizeikommandant und Flüchtlingsretter Paul Grüninger in einem feierlichen Akt geehrt worden.

Ein Held, der als Verbrecher galt

Grüningers Tochter Ruth Roduner, 93, enthüllte die Gedenktafel im vergangenen Jahr am Eingang zur Polizeistation. "Paul Grüninger sollte uns allen ein Vorbild sein", sagte der St. Galler Justiz- und Polizeidirektor Fredy Fässler. "Grüninger war als Polizeikommandant der einzige Fluchthelfer mit solch einem bedeutenden Rang innerhalb der öffentlichen Verwaltung", sagte Fässler. Der Kanton St. Gallen darf stolz sein auf seinen ehemaligen Polizeikommandanten. Das war nicht immer so.

Grüninger starb 1972 verarmt und in dem Ruf, ein Verbrecher zu sein. Weil er Tausenden jüdischen und anderen Flüchtlingen geholfen hatte, illegal in die Schweiz einzuwandern, musste der Polizeihauptmann zur Strafe sein Amt abgeben, verlor seine Pensionsansprüche und wurde wegen Pflichtverletzung verurteilt.

Bis seine Leistung anerkannt wurde, hat es lange gedauert. Die Schweiz hat sich mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit vor und während des Zweiten Weltkriegs nicht leicht getan. Heute aber tragen Straßen und Plätze in Israel, Deutschland und der Schweiz Grüningers Namen, in Sankt Gallen steht ein Paul-Grüninger-Stadion, in Wien eine Paul-Grüninger-Schule. Vergleichbar sei Grüningers Tat allenfalls mit dem Diplomaten Carl Lutz, sagte Fässler. Dieser rettete während des Zweiten Weltkriegs Zehntausende ungarische Juden vor dem sicheren Tod. Lutz arbeitete als Vizekonsul in der Schweizer Botschaft in Budapest.

Wenn ein Diplomat die Kompetenzen überschreitet

Seine humanitäre Aktion gilt als größte zivile Rettungsaktion während des Holocausts. Der sonst eher ängstlich veranlagte Lutz riskierte während der Aktion mehrmals sein Leben, indem er und seine Frau Gertrud sich zwischen bedrohte Juden und ihre faschistischen Häscher stellten.

Doch statt des Danks der Heimat erwartete ihn dort eine Rüge wegen Kompetenzüberschreitung und Spesenrittertums. Seine Berichte über seine Rettungsaktion wurden von seinen Vorgesetzten ignoriert, er selbst wurde in eine untergeordnete Stellung im Außenministerium abgeschoben.

Im Ausland wurde die Leistung von Carl Lutz dagegen rasch anerkannt. Israel ernannte ihn nach Kriegsende als ersten Schweizer zu einem "Gerechten unter den Völkern". Die Bundesrepublik Deutschland verlieh ihm ihre höchste Auszeichnung, das Große Bundesverdienstkreuz.

Die Vereinigten Staaten ehrten ihn bereits drei Jahre nach dem Krieg mit der "Liberty Medal" für besonderen Mut. In der Schweiz bleibt Lutz zu Lebzeiten jede Anerkennung verwehrt. Mit einer Ausnahme: 1963 ernennt ihn seine Heimatgemeinde Walzenhausen in Appenzell Ausserrhoden zu ihrem Ehrenbürger. Bis zu seinem Tod kämpfte Lutz verbittert und vergeblich für seine Rehabilitierung. Erst 1995 - 20 Jahre nach seinem Tod - wurde Carl Lutz zusammen mit Paul Grüninger von Parlament und Bundesrat offiziell rehabilitiert.

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