"Victoria" im Kino:Alles in einem Take

Kinostart 'Victoria'

Die Extrembedingungen des Drehs haben vor allem in den Schauspielern etwas befreit: Frederick Lau und Laia Costa in "Victoria".

(Foto: Senator Film/dpa)

Sebastian Schipper zeigt mit "Victoria", welche Energien das Kino in einem einzigen Take entfesseln kann. Ist Filmschnitt eine Kunst für Weicheier?

Von Tobias Kniebe

Dieser Film schließt einen Vertrag mit den Zuschauern, der weiter geht als die üblichen Versprechungen des Kinos. Seine einzige und entscheidende Klausel lautet so: Hier wurde alles am Stück gefilmt, zwei Stunden und zwanzig Minuten lang, ohne Schnitt und ohne Pause - und genauso wird der Film "Victoria" jetzt auch gezeigt.

Mit diesem Versprechen haben Sebastian Schipper und seine Mitstreiter bei der Berlinale Furore gemacht, und nun eilt es ihnen voraus auf dem Weg ins Kino.

Die erste Frage bei allen, die mit dieser Idee konfrontiert werden, ist allerdings immer dieselbe: Wer sagt uns, dass die Filmemacher hier ehrlich sind? Dass sie nicht doch geschummelt, das Ding nicht zum Beispiel in Minute 100 gegen die Wand gefahren, den Rest dann irgendwie angestückelt, womöglich zwischendrin sogar gekürzt haben?

Und die Antwort ist, dass wir sie beim Wort nehmen müssen. Die digitale Technik ist heute so ausgefeilt, dass man solche Manipulationen im Nachhinein nicht mehr erkennen könnte. Anders gesagt: Hier gilt der schöne alte Grundsatz von Treu und Glauben.

Ob man am Ende zu den Gläubigen gehört, ist natürlich eine sehr persönliche Sache. Zwei Dinge sprechen allerdings dafür. Erstens die Tatsache, wie leidenschaftlich und beseelt alle, die dabei waren, von der Erfüllung ihrer Mission schwärmen; und zweitens die Überlegung, dass jede Art von Foul Play inzwischen wohl ans Tageslicht gekommen wäre - weil die Filmbranche notorisch klatschhaft ist, weil dem Enthüller enorme Aufmerksamkeit sicher wäre, und weil das alles in einer Zeit passiert, in der Whistleblower ohnehin die Helden der Stunde sind.

Eine Geschichte von der nächsten Berliner Straßenecke

Sagen wir also: Das Versprechen gilt. Und es ist in der Tat ein großes Versprechen, wenn man den weiten emotionalen Weg betrachtet, den die Story zurücklegen will.

Victoria (Laia Costa), die dem Film seinen Titel gibt, ist eine junge Spanierin, noch recht neu in Berlin, mit wenig Geld und großen Träumen. Eines Nachts, der Morgen graut bereits, trifft sie vier echte Berliner Jungs, angeführt von Sonne (Frederick Lau) mit noch weniger Geld und eindrucksvollen Jugendstrafen, und ein Abenteuer beginnt.

Dieser Startpunkt ist auch noch gar nicht sehr weit hergeholt, praktisch nur von der nächsten Berliner Straßenecke. Denn dort lungern junge Spanier, die wenig Geld und große Träume haben, bekanntlich zu Tausenden herum, von echten Berlinern mit eindrucksvollen Jugendstrafen ganz zu schweigen.

Plötzlich eine Wendung ins Dramatische

Sie flirten herum nach der Disco, das Englisch rudimentär und lustig improvisiert; sie gehen zum Nachtanken in den Spätkauf, sie sitzen auf dem Hochhausdach herum, wo sie immer sitzen, sie erzählen viel und verraten wenig und erlauben dann doch einen plötzlichen Blick in ihre Seelen.

So beginnt ganz langsam ein neuer Tag, der dann aber plötzlich eine Wendung ins Dramatische nimmt. Eine alte Schuld aus der Unterwelt, die einen der Jungs verfolgt, kann nur noch mit einer überraschenden Sofortaktion getilgt werden: einem Banküberfall. Und Victoria, die diese Jungs nicht länger kennt als wir, nämlich exakt seit der Stunde, die der Film bis dahin läuft, wird ziemlich unausweichlich in die Sache verstrickt. Sie nimmt aber, was entscheidend ist, dieses Schicksal auch an. Weil es sich richtig anfühlt.

So kommt die Stunde der Wahrheit, nicht nur für die Heldin, sondern auch für den Film. All das ungeschnittene Leben und Labern und Herumalbern, das man bis dahin gesehen hat, muss diese große Entscheidung jetzt beglaubigen. Jede Minute hat man erlebt, die darauf hinführt, jede Gefühlsregung mitbekommen, die sich hier nun verdichtet.

Das große Versprechen löst sich tatsächlich ein

Und also muss sich das alles auch für die Zuschauer richtig anfühlen - sonst wäre die ganze Kraftanstrengung mit dem einen, einzigen Take, der logistische Wahnsinn der Dreharbeiten und der gewaltige Hochleistungssport mit der digitalen Kamera, atemberaubend sicher geführt von dem Norweger Sturla Brandth Grøvlen, umsonst. Aber das ist es nicht - das große Versprechen, todesmutig gegeben, beinahe schamanisch beschworen, löst sich tatsächlich ein.

Und im Gegenzug wird plötzlich klar, was für eine bequeme Erfindung der Filmschnitt doch ist, wenn sich etwa zwei Protagonisten verlieben. Normalen Filmen reichen da Andeutungen: hier ein Satz, in dem ein Funke überspringt, dort ein Aufleuchten der Augen oder ein plötzliches, grundloses Lächeln - schon glauben wir normalerweise, dass sich hier zwei gefunden haben, die wirklich füreinander bestimmt sind.

Eine absolute Wahrheit, die sich entfaltet

Den ganzen Prozess aber, den aus dem Leben natürlich jeder kennt, wenn zwei Menschen sich eine Stunde lang unterhalten und trinken und lachen und durch die Stadt laufen und am Ende etwas Magisches passiert, was noch keiner schlüssig erklären konnte, den sieht man im Film sonst nie. Denn die wirklich wichtigen Momente finden halt zwischen den Bildern statt, die stellen wir Zuschauer uns vor - immer bereit, dort auszuhelfen, wo das Kino nicht mehr wirklich liefern kann.

Kein Regisseur hat das besser verstanden als Ernst Lubitsch, der uns nicht nur mit Schnitten ausgesperrt hat, sondern sogar mit Türen. Legendär vor allem deshalb, weil dahinter dann die unglaublichsten Dramen, Enthüllungen und Sexszenen stattfanden - aber eben nur in unseren Köpfen. Auf dieses ultimative Machtmittel des Kinos verzichtet Sebastian Schipper, wenn er die komplette Evidenz seines Films in den Bereich des Sichtbaren zerrt: What you see is what you get.

Und es wirkt, als hätten diese künstlich erschwerten Extrembedingungen vor allem in den Schauspielern etwas befreit, das anders, im üblichen Stop-and-go-Betrieb des Filmemachens, meistens gefangen bleibt. Da ist jeder Gang, jeder Einstieg ins Auto, später auch jeder Schuss und jede Fluchtbewegung zwar exakt geplant - im Detail bleibt aber doch nur das Reagieren, das Improvisieren, die totale Verausgabung im Augenblick.

Es kommt also wirklich auf alles an: auf das Wippen von Laia Costas Pferdeschwanz genauso wie auf das Kichern, mit dem sie sich an einem schlafenden Kioskbesitzer vorbeischleicht, oder auf den Mutwillen, mit dem sie auf die Brüstung eines Hochhausdachs klettert.

Auf die winzigen Missverständnisse zwischen ihr und Frederick Lau, die hinter dem Schwätzer und Geschichtenerzähler auch einen Träumer zeigen, der dem Mephisto-Walzer von Franz Liszt lauscht und sich vollkommen darin verliert - noch so eine eher unwahrscheinliche Wendung des Films, die aber aus dem Moment heraus eine absolute Wahrheit entfaltet.

Sebastian Schipper war immer ein Regisseur, und sein Werk spiegelt das auch, der nicht an stetige und berechnende Fleißarbeit glaubt. Wie die Helden in seinem Debütfilm "Absolute Giganten" macht er sich manchmal die Sache so schwer wie möglich. Er ist der Mann für den irren Spielzug, der jeder Wahrscheinlichkeit Hohn spricht, für den Wahnsinnsschuss mit Ansage, der fast immer komplett in die Hose geht. Bis er dann, eines Tages, eben doch voll ins Schwarze trifft.

Victoria, D 2014 - Regie: Sebastian Schipper. Buch: Schipper, Olivia Neergard-Holm, Eike Schulz. Kamera: Sturla Brandth Grøvlen. Mit Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski. Senator, 139 Minuten.

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