Dokumentation:Ein irres Kunstwerk

Ausbruch in die Kunst

Julius Klingebiels Zelle im Göttinger "Verwahrhaus".

(Foto: NDR/ZENTRALFILM)

Julius Klingebiel bemalte jahrzehntelang die Wände der Psychiatriezelle, in die er eingesperrt war. Jetzt zeigt ein Film sein Werk.

Von Catrin Lorch

Die Zelle ist eng. Sieht einsam aus und kalt. Aber dieses Bild hört nicht auf: Hirsche, Eulen, Flugzeuge, Frauen in engen Kleidern. Hitler. Ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln. Und über der Tür: Jesus. Die meisten Menschen und Tiere haben eckige Glieder - während die Luftschiffe eher wie Fische aussehen. Die Wände sind eingeteilt wie die Schalttafel in einem Cockpit, dicht an dicht öffnen sich kleine Gevierte, dazwischen lange Trennstreifen. Im kleinen Raum, ausgemalt wie eine Kirchenkuppel, gibt es kaum freie Stellen auf den Wänden. Das Werk muss auch im Leben des Malers - Julius Klingebiel - viel Raum eingenommen haben: Jahrzehntelang arbeitete der im Jahr 1904 geborene Klingebiel an den Mauern dieser Zelle, in die er, psychisch krank, noch während der Herrschaft der Nationalsozialisten eingewiesen wurde. Ein Einzelhäftling, der dennoch froh sein musste, den Euthanasie-Programmen zu entgehen.

Von dem Moment an, in dem er während des Freigangs ein Stückchen Kohle im Schotter des Hofs gefunden hatte, fallen seine Lebensgeschichte und Werkgenese in eins. Er muss unaufhörlich gemalt und gezeichnet haben, Motive, die er anfangs wohl genauso häufig wieder abwaschen oder übertünchen musste. Von Julius Klingebiel ist außerhalb der Anstaltsmauern nichts geblieben. Und auch mit diesen Bildern hat sich lange niemand beschäftigt, immerhin: Sie wurden nicht übermalt. Man nutzte den engen Raum als Abstellkammer - wohl, um die Bilder zu schützen.

Der Film Ausbruch in die Kunst nimmt Klingebiels Lebenswerk als Ausgangspunkt, das Wenige, das von ihm bekannt ist, zu erzählen. Als exemplarischen Fall für die Brutalität, mit der man noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts mit sogenannten "Geisteskranken" umgegangen ist. Und als Feier eines außerordentlichen Kunstwerks, das ausgerechnet denen als Erbe zugefallen ist, die seinen Schöpfer zeitlebens eingesperrt und vernachlässigt haben, bestenfalls. Anlass für die Aufarbeitung ist wohl das Ende der Geschlossenen Anstalt für psychisch kranke Straftäter in Göttingen, zu der das "Verwahrhaus" später wurde.

Es sind vor allem die Recherchen des Psychiaters Andreas Spengler, der den Fall aus den Akten nacherzählt, die den Film sehenswert machen. Spengler schildert das Unrecht, das Klingebiel widerfuhr, der sich, als Schlosser bei der Wehrmacht beschäftigt, ein Jahr nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von seiner Umwelt bedroht und verfolgt sieht. Und plötzlich Frau und Stiefsohn attackiert. Eigentlich ist niemandem ein Vorwurf zu machen. Nicht der Polizei, die ihn einweist. Auch nicht den Ärzten, die Schizophrenie diagnostizieren. Allerdings: Außer Wegsperren fiel Ärzten damals nicht viel ein, behandelt wurden psychisch Kranke nicht. Es wird aber auch nicht unterschlagen, dass der offensichtlich liebenswürdige Einzelgänger von den Pflegern nicht nur Material bekam, sondern auch besondere Aufmerksamkeit. Angeblich gab er in den Sechzigerjahren sogar Führungen in seiner Zelle. Da versiegte andererseits auch schon sein Schaffensdrang, wohl unter dem Einfluss von Medikamenten. 1965 stirbt er bei einer Operation.

Leider steht dieser differenzierten Betrachtung der Versuch gegenüber, ein Genie aus einem klassischen "Outsider"-Künstler zu machen. "Outsider", so nennt man unter anderem solche manisch arbeitenden Maler und Bildhauer, die psychisch krank sind. Aber weder Reinhard Spieler, Museumsdirektor, der das Werk gerne im Sprengel-Museum in Hannover verwahren würde ("Trägt alle Merkmale großer Kunst"), noch dem auf Außenseiter spezialisierten Kunsthistoriker Thomas Roeske gelingt der Versuch, dem Fernsehpublikum ein bedeutendes Genie der Kunst vorzuführen. Nein, weder die Künstler, die in der Sammlung Prinzhorn verwahrt werden, noch die berühmte Malerei aus der österreichischen Anstalt "Gugging" waren einflussreich. Es macht ja gerade die Faszination ihrer Imagination aus, dass sie naiv war, unverbildet, ornamental, eigengesetzlich.

Ausbruch in die Kunst, NDR, Sonntag, 11.30 Uhr.

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