Teure Währung:Schweizer Industrie flieht vor dem Franken

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Ganz so heimlig ist es in der Schweiz dann doch nicht. (Foto: Peter Klaunzer/dpa)

Der überbewertete Franken treibt Arbeitgeber aus dem Land. Nicht mal Luxus-Uhren sind davor sicher.

Von Charlotte Theile, Zürich

Deindustrialisierung. Das Wort klingt nach Rückschritt, nach einer Moderne ohne Arbeitsplätze, ein Schreckensszenario. Die Schweiz, das Hochlohnland mitten in Europa, krisenfest und unabhängig, hat Angst, dass ihr genau das bevorsteht. Pierin Vincenz, scheidender Chef der Schweizer Raiffeisen-Bank, glaubt an dieses Szenario. Wenn er recht hat, wird die Schweiz in wenigen Jahren nicht mehr wiederzuerkennen sein. Das Land stehe an einer Weggabelung, sagte Vincenz vor einigen Tagen der Schweiz am Sonntag - auf der einen Seite die "hochleistungsfähige Hightech-Schweiz", auf der anderen Seite europäisches "Mittelmaß". Seine Prognose: Bleibt der Franken weiter so stark, wird das produzierende Gewerbe das Land verlassen. Kaum ein Arbeitgeber wird es sich auf Dauer leisten, Arbeiter in einer Währung zu bezahlen, die - wenn man zum Beispiel den Big-Mac-Index des Economist heranzieht - fast 60 Prozent überbewertet ist.

Wenn nicht einmal mehr Schweizer Uhren sicher sind - was dann?

Als die Nationalbank Mitte Januar den Wechselkurs von Euro zu Franken freigegeben hat, entschieden viele Unternehmen abzuwarten. Inzwischen ist klar: Da passiert erst mal nichts mehr. Ein Euro = ein Franken, diese Gleichung dürfte Bestand haben. Und die Firmen reagieren. Der Dienstleistungskonzern DKSH, der hauptsächlich in Asien tätig ist, gab Anfang der Woche bekannt, sich von den Luxus-Uhrenmarken Maurice Lacroix und Glycine zu trennen. Grund sei der starke Franken.

Wenn nicht einmal mehr Schweizer Luxus-Uhren sicher sind - was dann? Entwickelt sich das Land zu einer Banken- und Dienstleistungs-Ökonomie? Für das Selbstverständnis des Landes wäre das eine Erschütterung. Die Schweizer sind stolz auf die hochwertigen Produkte made in Switzerland. Und: Die produzierende Industrie trägt etwa ein Fünftel zum Bruttoinlandsprodukt bei. Noch liegt die Arbeitslosenquote bei vergleichsweise niedrigen 3,1 Prozent. Doch die Zusammensetzung der Arbeitsplätze verändert sich. Bauausrüster, Flugzeugwartungsfirmen, Hörgerätehersteller, Maschinenbauer haben in den vergangenen Monaten Hunderte Arbeitsplätze gestrichen oder ins Ausland verlagert. Fast immer sind es einfache Jobs, die verloren gehen. Banken, Versicherer und Hightech-Unternehmen dagegen klagen, sie könnten ihre hoch qualifizierten Stellen nicht schnell genug besetzen.

"Der Graben zwischen den besser Ausgebildeten und Gutverdienenden zu solchen, die mit dieser Entwicklung nicht mithalten können", werde sich auftun, glaubt Raiffeisen-Chef Vincenz. Zudem würden immer mehr gut ausgebildete Ausländer in die Schweiz kommen. Man müsse sich auf zehn Millionen Einwohner einstellen. Im Moment leben gut acht Millionen Menschen in der Schweiz.

Dass sich gerade ältere Schweizer, die ihre Arbeitsplätze gefährdet sehen, gegen diese Entwicklung stemmen, dass Gesetze zur Begrenzung der Zuwanderung erfolgreich sind, verwundert vor diesem Hintergrund wenig. In der Schweiz gilt grundsätzlich Kündigungsfreiheit: Wenn ein jüngerer, günstigerer Bewerber kommt, werden Ältere auf einen Schlag arbeitslos.

Obwohl sich die Schweiz gegen eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union entschieden hat, wird sie nun von der Währungskrise getroffen. Kilometerlange Schlangen der Autos in Richtung Konstanz, längere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn - und eben, die Verlagerung von industriellen Arbeitsplätzen. Die Schweizer erleben im Moment sehr konkret, was es heißt, mit einer Fluchtwährung zu leben. Der neoliberale Thinktank Avenir Suisse hat vor Kurzem eine Broschüre veröffentlicht, "Wettbewerbsfähig mit starkem Franken". Hierin betonen die Wissenschaftler dessen Vorteile, zum Beispiel die Kaufkraft der Schweizer. So liegt etwa des Verhältnis der Zürcher Gehälter zu den Zürcher Preisen so günstig, dass sich in Europa nur die Kopenhagener mehr leisten können. Und dass obwohl Zürich im Moment als teuerste Stadt der Welt gilt. "Und wem das nicht genügt", schreiben die Autoren von Avenir Suisse, der nehme sich eben "die Freiheit beziehungsweise die Zeit seine Einkäufe im nahen Ausland zu tätigen". Ganz einfach.

Im Stahlbad

Auch die wirtschaftsliberale Neue Zürcher Zeitung sieht positive Effekte für die Schweizer Wirtschaft. Zwar sei die starke Währung ein "Stahlbad" für die Industrie - sie biete aber Chancen "auf eine noch bessere Positionierung auf dem Weltmarkt". Wer auf einen Schlag 15 Prozent teurer werde, müsse eben an seiner Wettbewerbsfähigkeit arbeiten, den Preisunterschied durch Qualität rechtfertigen. Die Konkurrenz im Euroraum verpasse wahrscheinlich gerade jetzt Innovationsschritte, die Schweizer Firmen unter dem Druck ihrer Währung unternehmen müssten.

Anderen ist die gute Laune inzwischen vergangen. Der Grexit wäre für die Schweiz "die schlimmste vorstellbare Entwicklung", sagte Anastassios Frangulidis, Chefökonom der Zürcher Kantonalbank und schweizerisch-griechischer Doppelbürger nach dem Referendum der Griechen. In der Folge würde sich der Franken weiter aufwerten - und das nachdem er in den vergangen Jahren bereits in Rekordtempo gestiegen ist. 2009 unternahm die Nationalbank noch Anstrengungen, den Euro bei 1,50 Franken zu halten, heute liegen beide gleichauf. Axel Weber, Präsident der Großbank UBS, glaubt, das Problem des starken Frankens löse sich "letztlich nur, wenn Europa zu neuem Wirtschaftswachstum und neuer Dynamik gelangt." Er sei aber zuversichtlich, dass eine solche Erholung bevorstehe.

Noch versucht die Schweizerische Nationalbank dem Aufwertungsdruck mit Negativzinsen entgegenzuwirken, was ihr einige Kritik einbringt. Die Schweizer Pensionskassen etwa leiden unter der Maßnahme und fassen zunehmend riskante Geschäfte ins Auge, um ihnen zu entgehen. Auch das verunsichert viele Schweizer, die ihre Altersvorsorge gefährdet sehen.

Pierin Vincenz und andere Ökonomen fordern eine offene Debatte über die Zukunft des Landes. Wenn man sich für eine Hightech-Schweiz entscheide, brauche es Auffangnetze für alle, die nicht mehr mitkämen, gigantische Infrastruktur-Projekte um die erforderlichen Spitzenkräfte unterzubringen - und eine neue Subventionspolitik. Der Tourismus könne schließlich genauso wenig mit dem hohen Preisniveau umgehen wie die Industrie, wenn man ihn weiter haben wolle, müsse man subventionieren. Hoteliers, glaubt Vincenz, seien in der Schweiz bald "die neuen Bauern".

© SZ vom 16.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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