Wahlrechtsreform:Zwei Jahre Zeit - und nichts ist passiert

Bundestagspräsident Norbert Lammert

Parlamentspräsident Norbert Lammert drängt auf eine Wahlrechtsreform.

(Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)
  • Bundestagspräsident Lammert fordert, das Parlament solle das geltende Wahlrecht reformieren - rechtzeitig vor der Bundestagswahl 2017.
  • Lammert beklagt zum einen den Aufbläh-Effekt durch Überhang- und Ausgleichsmandate. Zudem hält er das geltende Wahlsystem für völlig intransparent.

Von Robert Roßmann, Berlin

Wie wichtig Norbert Lammert das Thema ist, hat er bereits in der ersten Sitzung des aktuellen Bundestags klargemacht. Nach seiner Wiederwahl zum Parlamentspräsidenten forderte Lammert die Abgeordneten auf, "noch einmal in Ruhe und gründlich" auf das gerade erst geänderte Wahlrecht zu schauen.

Trotz des eindeutigen Ausgangs der Bundestagswahl 2013 habe das Wahlrecht zu 33 Überhang- und Ausgleichsmandaten geführt. Dies lasse "die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten". Deshalb spreche manches dafür, das Wahlrecht rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl noch einmal zu überprüfen.

Mathematiker hatten zuvor ermittelt, dass das neue Wahlrecht den Bundestag gewaltig aufblähen kann. Eigentlich gibt es nur 598 Abgeordnete. In Extremfällen könnten es wegen des neuen Rechts aber auch hundert oder zweihundert mehr werden. Wäre der Bundestag 2009 bereits nach den neuen Regeln gewählt worden, hätte es 671 Sitze gegeben. Wegen des klaren Vorsprungs der Union vor der SPD wurden es 2013 aber "nur" 631 Abgeordnete.

Lammert beklagt nicht nur diesen Aufbläh-Effekt. Er glaubt auch, dass das Wahlrecht insgesamt nicht einmal die Mindestanforderungen an die Transparenz eines Wahlsystems erfüllt.

Wer kann schon das Wahlrecht erklären

Umso ärgerlicher ist der Bundestagspräsident darüber, dass bisher nichts geschehen ist. Die halbe Legislaturperiode ist vorbei, und es gibt noch nicht einmal irgendeine Arbeitsgruppe zur Überprüfung des Wahlrechts.

In der Welt am Sonntag machte Lammert seinem Unmut jetzt Luft. Das derzeitige Wahlsystem sei zu kompliziert, sagte er. Nicht einmal eine Handvoll Bundestagsabgeordneter seien "in der Lage, unfallfrei die Mandatsberechnung zu erklären". Das Parlament solle deshalb rechtzeitig vor der Wahl 2017 das geltende Recht reformieren. Wegen der Kandidaten- und Listenaufstellungen sei es dafür bereits im Sommer 2016 zu spät.

Ganz so einfach dürfte die Reform aber nicht werden. Denn in Deutschland werden die Mandate nicht einfach nach dem Verhältnis der Zweitstimmen verteilt. Es gibt eine Fülle von Ausnahmen von diesem reinen Verhältniswahlrecht, die alle für sich genommen eine Begründung haben, die Verteilung der Mandate insgesamt aber ungemein erschweren.

So werden 299 Abgeordnete nicht nach dem Verhältniswahlrecht über die Listen, sondern nach dem Mehrheitswahlrecht direkt in den Wahlkreisen gewählt. Außerdem stellen die meisten Parteien keine Bundes-, sondern Landeslisten auf. Es gibt eine Fünf-Prozent-Hürde, Überhang- und Ausgleichsmandate. Und Parteien, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, bekommen trotzdem nach ihrem Zweitstimmenanteil Sitze im Bundestag, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewinnen.

Ausgleichssitze für alle Überhangmandate

Lammert hat bei seinem Vorstoß aber vor allem die Überhang- und Ausgleichsmandate im Blick. Ein Überhangmandat entstand im alten Wahlrecht, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewonnen hat, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil eigentlich an Sitzen zugestanden hätte. Bei der Bundestagswahl 2009 hatte die Union alle 24 damals entstandenen Extra-Sitze gewonnen. Die anderen Parteien bekamen dafür keinen Ausgleich.

Im Juli 2012 erklärte das Bundesverfassungsgericht dann allerdings das damals geltende Wahlrecht für verfassungswidrig, weil dabei Überhangmandate in einem Umfang anfallen würden, "der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebt". In ihrem Urteil erklärten die Richter, dass künftig nur noch bis zu 15 unausgeglichene Überhangmandate zulässig seien.

SPD, Grüne und Linke bestanden bei den anschließenden Gesprächen über eine Anpassung des Wahlrechts aber auf einem Vollausgleich aller Überhangmandate. Deshalb gibt es jetzt für alle Überhangmandate Ausgleichssitze für die anderen Parteien.

Hätten sich die Parteien bei der Neugestaltung des Wahlrechts strikt an die Mindestvorgaben des Karlsruher Urteils gehalten, wäre bei der Bundestagswahl 2013 kein einziges der 29 Ausgleichsmandate nötig gewesen. Denn es gab damals nur vier Überhangmandate.

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