Tod von Oliver Sacks:Der menschenfreundlichste Arzt seit Sigmund Freud

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Er erforschte seltene Krankheiten, experimentierte mit LSD und erfand den Roman in Pillenform. Oliver Sacks war als Arzt wie als Schriftsteller ein Wunderkind und Menschenfreund.

Von Willi Winkler

Der Arzt ist auch nicht besser als der Romancier, fälscht sich aus zufälligen Details ein Krankheitsbild zusammen, das manchmal zutrifft und oft auch nicht, Hauptsache, es klingt halbwegs plausibel. Das, was im psychischen Metabolismus alles auf seine ganz besondre Weise vor sich geht, lässt sich nur ahnen und selten ganz erfassen. "Was für Pfuschereien sind unsere Reproduktionen", seufzt der große Geschichtenerzähler Sigmund Freud in einem Brief an seinen Lieblingsjünger C. G. Jung, "wie jämmerlich zerpflücken wir diese großen Kunstwerke der psychischen Natur!"

Oliver Sacks war sein Leben lang mit dem Analysieren von Krankheiten beschäftigt, aber er hat sie mit dem größten Respekt und einem kindlichen Staunen betrachtet, eben als Kunstwerk. Er kam 1933 in London zur Welt und wurde während der deutschen Luftangriffe aufs Land und in ein Internat evakuiert, wo die königlich-britischen Sadisten regierten und der große Menschenfreund seine ebenso große Menschenscheu entwickelte. Er war der kleine Chemiker und große Experimentator, ein Wunderkind, das gar nicht wusste, wohin mit seinem Forscher- und Erkenntnisdrang, doch vereindeutigte ihm seine Herkunft die Wahl eines Berufs: Die Eltern waren beide Ärzte, und so musste er auch einer werden. Nach dem Studium wanderte er aus und gelangte über Kanada nach Kalifornien, wo er mitten in der Drogen-, Gewalt- und Hippie-Welt von San Francisco landete. Er ordinierte und praktizierte, wie's die Kunst vorschrieb, aber mit einer nicht geringen selbstmörderischen Draufgängerei konnte er auch Hunderte Kilometer auf seinem Motorrad in die Wüste donnern oder nach Las Vegas.

Welcher Arzt könnte sich in seiner Bewerbungsmappe etlicher Titel im Gewichtheben rühmen und der Erfahrungen, die er bei der Einnahme von LSD und halluzinogenen Drogen gesammelt hatte? Ganz zu schweigen von den Schrammen, die er sich beim Herumackern mit den Motorradbrüdern der Hells Angels zugezogen hatte. Abgesehen davon, dass der karrierebewusste Arzt solche Extratouren vorsichtshalber verschweigen sollte, wenn er es selber zum Primar oder Lieblingsgeburtshelferprofessor an einer Universitätsklinik bringen will, würde er sich ein derart exaltiertes Verhalten aus Angst um die eigene Gesundheit sowieso versagen.

Das ganze Leben musste es sein

Bei Oliver Sacks musste es mit aller Gewalt das ganze Leben sein, die ganze Wissenschaft, der ganze Mann, einfach alles. Er begleitete eine Expedition der amerikanischen Farngesellschaft nach Mittelamerika, er tauchte nach Korallen, er forschte über Zwillinge, Vulkane und vorkolumbianische Siedlungsformen und er setzte seinen Körper mit einer Autoaggression aufs Spiel, dass einem beim Nachlesen seiner Übermutsbiografie schwindlig wird. Dabei litt er selber sein Leben lang an kaum erträglichen Kopfschmerzen (siehe sein grundlegendes Werk über die Migräne) und lebte immer in der Angst, die Geisteskrankheit, die seinen Bruder zerstörte, könnte bald auch nach ihm greifen.

1966 wechselte Sacks nach New York an ein Krankenhaus mit Langzeit-, also nach landläufigen Begriffen unheilbaren Patienten. Ein Teil von ihnen litt an der Europäischen Schlafkrankheit, in der sie ihre Tage bei minimaler Betreuung verdämmerten. Die eigene Erfahrung mit halblegalen Drogen gab ihm die Idee ein, das Hirn seiner Patienten mit Levodopa zu stimulieren. Dabei erzielte er erstaunliche, wenn auch keine systematischen Erfolge.

Sacks schrieb über dieses schiere Wunder und begründete damit in der beginnenden Soziologisierung der Medizin die klassische Krankengeschichte neu als "neurologische Novelle". In der bewährten amerikanischen Saccharinisierung wurde daraus der Film "Zeit des Erwachens" mit Robin Williams als Sacks-Wiedergänger, der seinen Patienten, den bedauernswerten Robert De Niro, mit Rilkes Gedichten aus der Bewusst- und Sinnlosigkeit holt. So hat er den Wissenschaftsroman in Pillenform erfunden, die teilnehmende Beobachtung bei den rätselhaftesten Störungen, eben den seither sprichwörtlichen "Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte". Die Synästhesie, mit der sich Dichter wie Maeterlinck und Maler wie Kandinsky abmühten, erlebte Sacks als Normalität am Leib seiner Patienten.

Unermüdlich als Arzt und Autor

Aber wie geschwollen, wie, ja, wie erfunden liest sich jede noch so dramatische Ehebruchs- oder Kriminalgeschichte verglichen mit den Volten und Sprüngen, die sich die Natur mit sich selber erlaubt! Oliver Sacks hat sie getreulich aufgezeichnet, hat den Verrückten, den Gestörten, den Patienten überhaupt eine Würde zuerkannt, für die die standardisierte Behandlungsmedizin keine Zeit und schon gar keine Geduld hat. Die futterneidischen Kollegen wussten natürlich genau, dass der bunte Vogel unseriös arbeitete, sie warfen ihm Geldgier und Ausbeutung seiner Patienten zur eigenen schriftstellerischen Ruhmvermehrung vor. Wie hätten sie auch sehen können, dass hier einer den Menschen mit psychischen Störungen einen Respekt verschaffte, wie es seit dem Goldenen Zeitalter Athens nicht mehr vorgesehen war.

Als strenger und systematischer Wissenschaftler konnte der unermüdlich praktizierende, notierende und schreibende Sacks gar nicht anders, als sich selber zu seiner letzten Fallstudie zu machen. In einer Reihe von Artikeln für die New York Times berichtete er in den letzten Monaten von seinem körperlichen Verfall. Nachdem ein Melanom gestreut hatte, erreichte der Krebs bald das Auge, und die Metastasen fraßen allmählich seinen Körper auf. Es wurde Zeit, dieses Leben nicht bloß abzuschließen, sondern seinen Frieden damit zu machen.

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In der erst vor wenigen Monaten erschienenen Autobiografie "On the Move. Mein Leben" berichtet er zum Beispiel von seinen erschreckenden Essgewohnheiten. So hatte er sich jahrzehntelang von einer Portion Dosenfisch ernährt, dreißig Sekunden im Stehen, dann wieder an die Arbeit. Erst jetzt gelang es ihm, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen, verbunden allerdings mit dem Bedauern, dass er bis auf die letzten acht Jahre zölibatär gelebt hatte, ein Mönch ganz im Dienst der Wissenschaft und der Kunst. In New York ist am Sonntag der menschenfreundlichste Arzt seit Sigmund Freud gestorben. Oliver Sacks wurde 82 Jahre alt.

© SZ vom 31.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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