Anthropologie:Grazil mit kleinem Hirn

Homo naledi ist ein neuer Verwandter des modernen Menschen

So könnte der Kopf von "Homo naledi" ausgesehen haben.

(Foto: Mark Thiessen/dpa)
  • Wissenschaftler haben aus einer unzugänglichen Höhle in Südafrika rund 1550 fossile Knochen geborgen.
  • Die Überreste gehören zu einer bislang unbekannten Menschenart: Homo naledi könnte vor über einer Million Jahren gelebt haben.
  • Der Frühmensch war wohl sehr geschickt, hatte aber ein kleines Gehirn.

Von Hubert Filser

Es kommt nicht oft vor, dass Wissenschaftler ihre Mitarbeiter nach Körpermaßen casten. Doch diesmal hatte der Anthropologe Lee Berger keine andere Wahl. Maximal 18 Zentimeter dick durften sie sein, sonst hätten sie nicht durch den engen Zugang zu einer Höhle voller Fossilien gepasst. Der Einstieg in die tiefste Zone der Höhle Rising Star etwa 50 Kilometer nordwestlich von Johannesburg ist nur über eine schmale, steil abfallende Rinne möglich - ein gefährlicher und schwieriger Abstieg.

Doch was die sechs naturwissenschaftlich ausgebildeten Kletterer, allesamt Frauen, "Untergrund-Astronautinnen", wie Berger sie nannte, dort in einer tief gelegenen Kammer etwa 90 Meter vom Höhleneingang entfernt erwartete, entlohnte für alle Mühen. Das Team des südafrikanischen Anthropologen von der Universität Witwatersrand entdeckte dort Überreste einer neuen, bislang unbekannten Menschenart. Die Wissenschaftler gaben ihr den Namen Homo naledi , nach dem Fundort Rising Star. Naledi bedeutet nämlich Stern in einer in der Region gesprochenen Sprache.

Die Frühmenschen waren im Schnitt 1,50 groß und wogen etwa 45 Kilogramm

Bergers Team aus Höhlenkletterern und Wissenschaftlern fand in zwei Expeditionen im November 2013 und im März 2014 nicht bloß einen Unterkiefer, ein paar Zähne oder einen Oberschenkelknochen, wie es sonst bei Ausgrabungen derart alter Fossilien meistens der Fall ist. Es waren mehr als 1550 einzelne Knochen von insgesamt mindestens 15 Individuen der neuen Menschenart: Männer, Frauen und acht Kinder. "Als wir in die Kammer hinabkletterten, sah das aus, als würden wir ins Maul eines Haies steigen", erzählt Marina Elliott, eine der sechs Frauen, die über Wochen Knochen bargen. Vermutlich tauchen sogar noch mehr Fossilien auf, wie Berger am Donnerstag in Johannesburg sagte. Die Vertreter von Homo naledi waren im Durchschnitt etwa 1,50 Meter groß und wogen als Erwachsene wahrscheinlich etwa 45 Kilogramm. Der Körperbau der Frühmenschen war somit wohl ziemlich grazil. Ihr Gehirn war mit etwa 560 Kubikzentimetern eher klein, vergleichbar mit einer Orange. Die Ergebnisse publizierte der Wissenschaftler im Journal eLife.

Anthropologie: Handknochen der Frühmenschenart Homo naledi

Handknochen der Frühmenschenart Homo naledi

(Foto: AFP)

Für Anthropologen ist eine solche Entdeckung so etwas wie das Paradies. "Die Funde sind grandios, da wird es heute eine große Party in Johannesburg geben", sagt der Frankfurter Paläoanthropologe Friedemann Schrenk. Selbst in der Region nördlich von Johannesburg, die aufgrund ihres Reichtums an Fossilien Wiege der Menschheit genannt wird und als Weltkulturerbe ausgezeichnet ist, sind solche Entdeckungen nicht alltäglich.

Erst im Jahr 2008 hatte Teamleiter Lee Berger zusammen mit seinem Sohn Matthew in einer Karsthöhle 40 Kilometer nördlich von Johannesburg Überreste der bis dahin unbekannten Hominidenart Australopithecus sediba aufgespürt. Doch eine Fülle wie bei Homo naledi hat Berger bei der Entdeckung einer neuen Menschenart noch nie erlebt - und wahrscheinlich auch kein anderer Anthropologe. "Fast alle Körperknochen von Homo naledi liegen uns mehrfach vor, sodass er uns schon jetzt besser bekannt ist als alle anderen fossilen Vertreter unserer Abstammungslinie", sagt Lee Berger. Dem stimmt Schrenk zu: "Eine derart riesige Anzahl von Fundstücken ermöglicht einen bislang noch nie da gewesenen Detailreichtum bei der Artbeschreibung."

Angesichts der Vielzahl der Fossilien wählte Berger eine überaus ungewöhnliche Art, diese wissenschaftlich zu bearbeiten. Im Mai 2014 kamen 50 Anthropologen, darunter auch Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, zu einem wissenschaftlichen Workshop zusammen, um sich gemeinsam durch die Fossilien-Fundgrube zu arbeiten - ein Novum in der Paläoanthropologie. Nur so ließ sich die rekordverdächtig kurze Bearbeitungszeit erreichen, normalerweise brauchen Forscher für solche umfangreichen Funde ein Jahrzehnt. Diesmal kam die hochwertige Analyse schon nach einem Jahr: "Homo naledi ähnelt den frühen Hominiden, zeigt aber auch einige überraschend menschenähnliche Eigenschaften, die ihm seinen Platz innerhalb der Gattung Homo sichern", sagt John Hawks von der University of Wisconsin in Madison, einer der beteiligten Anthropologen. Noch sind die Knochen nicht datiert.

Der Fund bedeutet, dass man die menschliche Entwicklungsgeschichte überdenken muss

Anthropologie: Schädelknochen von Homo naledi

Schädelknochen von Homo naledi

(Foto: AFP)

Üblicherweise bestimmen die Anthropologen das Alter der Fossilien über die umliegenden Erdschichten. Da die Knochen in weichem Sediment auf dem Höhlenboden lagen, scheidet diese Möglichkeit aus, denn Sediment kann sich leicht umlagern. So ist es bislang nicht möglich, die neue Menschenart in den menschlichen Stammbaum einzuordnen. Berger hält eine frühe Datierung mit etwa zwei Millionen Jahren für möglich. Dann wäre man an den Anfängen der Gattung Mensch. Friedemann Schrenk hält das für eher unwahrscheinlich. Doch selbst wenn Homo naledi nur eine Million Jahre alt wäre, müsste man die Entwicklungsgeschichte der Menschheit überdenken. Das würde nämlich bedeuten, dass die Menschen aus der Rising-Star-Höhle gleichzeitig mit anderen Menschenarten gelebt haben. Alle mit unterschiedlichen Fähigkeiten und verschieden großen Gehirnen.

Bergers Team erfasste jeden einzelnen Knochen, vermaß Größe, Krümmung, erfasste Besonderheiten und verglich sie dann jeweils mit denen anderer bekannter Menschenarten. Die Schultern von Homo naledi wirken eher wie die von Menschenaffen. Der Schädel mit den kleinen Zähnen ähnelt einem der frühesten Vertreter der Gattung Mensch, dem Homo habilis, der vor 2,1 Millionen Jahren auf der Erde lebte.

Die Schultern erinnern an einen Affen, die Füße sehen dagegen aus wie bei modernen Menschen

Gleichzeitig gibt es auch Hinweise auf weiter entwickelte Eigenschaften. Die Hände von Homo naledi konnten durchaus bereits Werkzeuge benutzen, gleichzeitig deuten die stark gebogenen Finger darauf hin, dass er noch gut klettern konnte. Die Füße wiederum sind praktisch nicht von denen eines modernen Menschen zu unterscheiden, schreiben die Forscher. Der Frühmensch konnte wohl sehr gut lange Strecken aufrecht zurücklegen. "Die Kombination der anatomischen Eigenschaften von Homo naledi unterscheidet ihn von allen bisher bekannten Menschenarten", sagt Berger.

Weil von Homo naledi das komplette Skelett vorliegt, lässt er sich sehr gut mit anderen Menschenarten vergleichen. Das macht Rückschlüsse auf evolutionäre Veränderungen möglich. "Offenbar verlaufen nicht alle Entwicklungsschritte in allen Menschengruppen gleichmäßig, das wissen wir schon von den Neandertalern", sagt Schrenk. Er spricht von einer "Mosaikevolution". Mal könnten sich in einer Menschenart eher aufrechter Gang und Fortbewegung schneller entwickelt haben, mal in einer anderen, weit entfernt lebenden eher das Gehirn oder das Gebiss. Damit würde man sich von der Idee einer synchronen Entwicklung aller Menschen verabschieden.

Die Wissenschaftler fasziniert außerdem, dass alle Knochen, egal ob von Kindern oder alten Menschen, in einer einzigen, tief im Fels gelegenen Kammer lagen, die von den übrigen Räumen der Höhle getrennt war. Die Forscher vermuten, dass die Frühmenschen hier bewusst bestattet oder zumindest entsorgt wurden. Sollte Berger mit dieser Vermutung recht behalten, würde das auf einen bewussten Umgang mit Toten hindeuten, der bei Frühmenschen bislang unbekannt war. "Wir sind zahlreiche Szenarien durchgegangen: beispielsweise ein Massensterben, ein unbekanntes Raubtier, der Transport von einem anderen Ort in die Kammer mithilfe von Wasser oder der Unfalltod in einer Todesfalle", sagt Berger. "Als plausibelste Variante blieb nur die bewusste Beseitigung der Toten durch Homo naledi." Er ist sich sicher, dass dort unten in der Höhle noch Überraschungen warten. "Diese Kammer hat noch nicht all ihre Geheimnisse preisgegeben", sagt der Anthropologe.

Homo naledi ist ein neuer Verwandter des modernen Menschen

Reichhaltiger Fund: Mehr als 1500 Knochen lagen in der "Rising Star" Höhle.

(Foto: dpa)
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