Türkei:"Eine Stadt als Ganzes zu bestrafen, verstößt gegen die Menschenrechte"

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Nach einer Straßensperre versucht Selahattin Demirtaş (Mitte, weißes Hemd) von der prokurdischen HDP samt Delegation zu Fuß zum eingekesselten Cizre zu gelangen. (Foto: Ilyas Akengin/AFP)
  • Die südosttürkische Stadt Cizre ist von der Außenwelt abgeriegelt. Strom, Telefon und Internet funktionieren nur eingeschränkt.
  • Augenzeugen berichten von Schießereien und Explosionen. Auch Scharfschützen sollen im Einsatz sein.
  • Eine Delegation der kurdischen Partei HDP hatte versucht, zu Fuß nach Cizre zu gelangen. Das Militär stoppte sie und begründete dies mit Sicherheitsbedenken.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Im wieder aufgeflammten Kurdenkonflikt führen türkische Armee und PKK einen erbitterten Kampf um die südosttürkische Stadt Cizre. Seit einer Woche geht die Regierung in der kurdisch geprägten Stadt mit etwa 120 000 Einwohnern mit einer Militäroperation gegen mutmaßliche Kämpfer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei vor. Cizre war am Freitag noch von der Außenwelt abgeriegelt. Strom, Telefon und Internet funktionieren nur eingeschränkt. Trotz Ausgangssperre sind nach offiziellen Angaben mehr als 30 Menschen bei den Gefechten umgekommen.

Die Ausgangssperre soll an diesem Samstag aufgehoben werden.

Ali Haydar Konca, Politiker der prokurdischen Partei HDP und Europaminister in der Übergangsregierung, die das Land zur Neuwahl am 1. November führt, sagte der Süddeutschen Zeitung: "Man kann gegen den Terror kämpfen, aber nicht so. Eine Stadt als Ganzes zu bestrafen verstößt gegen die Menschenrechte." Zeugen berichten von Schießereien, Explosionen und Scharfschützen im Einsatz.

Nach Angaben der Zeitung Milliyet geht das Militär mit 1500 Anti-Terror-Kämpfern gegen mutmaßliche Separatisten vor. Der Innenminister des Landes, Selami Altınok, erklärte, bei dem Einsatz seien bislang bis zu 32 PKK-Kämpfern getötet und zehn festgenommen worden. Ein Zivilist sei umgekommen. Sicherheitskräfte hätten 800 Kilo Sprengstoff zerstört und Waffenverstecke ausgehoben.

Eine HDP-Delegation versuchte, zu Fuß nach Cizre zu gelangen

Die HDP sprach von mehr als 21 getöteten Zivilisten, darunter Frauen und Kinder. Ihr Vorsitzender Selahattin Demirtaş ist mit mehreren Dutzend Abgeordneten in die Provinz gereist, um sich ein Bild von der Lage zu machen. "Die Toten können nicht begraben werden. Wasser und Brot werden knapp", sagte Konca. Die Lage werde immer bedrohlicher für die Bevölkerung der Stadt. "Wir müssen das Blutvergießen stoppen." Cizre sei dabei, "zum türkischen Kobanê" zu werden, sagte Parteichef Demirtaş mit Blick auf die syrische Grenzstadt, die monatelang von der Terrormiliz Islamischer Staat belagert worden war, ehe kurdische Kämpfer sie zurückeroberten. Die Türkei drohe wie Syrien und der Irak in den Bürgerkrieg abzurutschen, weil "hochnäsige Politiker" nicht auf die Stimme des Volkes hörten. Der Kurdenkonflikt war wieder gewaltsam ausgebrochen, als die HDP bei der Wahl im Juni der alleinregierenden AKP den Weg zur absoluten Mehrheit verbaute.

Die HDP-Delegation hatte versucht, zu Fuß nach Cizre zu gelangen. Das Militär stoppte sie und begründete dies mit Sicherheitsbedenken. Ein Teil der Delegation will in der Nähe ausharren. "Wenn wir schwiegen, dann würde dieses Feuer überall brennen", sagte Demirtaş. Die kurdische Abgeordnete Leyla Zana kündigte an, in den Hungerstreik zu treten. Sie ist eine der bekanntesten Kurdenpolitikerinnen. 1991 zog sie sich den Zorn der Staatsgewalt zu, als sie bei ihrer Vereidigung als Abgeordnete auch Kurdisch sprach.

Sie wurde inhaftiert und kam erst 2004 frei. In Ankara verlangte die größte Oppositionspartei, die säkulare CHP, Aufklärung über die Operationen in Cizre und kritisierte, dass nicht einmal Kabinettsmitglieder wie Konca durchgelassen würden. Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Muižnieks, erklärte in Straßburg: "Ich fordere die Behörden auf, sofort unabhängigen Beobachtern Zugang zu Cizre zu ermöglichen." Die Stadt gilt als Hochburg der PKK-Sympathisanten. Seit Wochen verwehren Bewohner dem Militär mit Straßensperren die Zufahrt zu ihren Häusern. Regierungsnahe Zeitungen deuten das Vorgehen der Regierung als Versuch, die Kontrolle über die Stadt nicht an die PKK zu verlieren.

Der Provinzgouverneur teilte am Freitagabend mit, das türkische Militär habe seinen Einsatz erfolgreich beendet.

© SZ vom 12.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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