Flüchtlingskrise:Sorgenfalten in Berlin

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"Deutschland sieht sich in einer Situation, wo wir an Grenzen stoßen", so umschrieb Sigmar Gabriel die letzten Woche, hier mit Angela Merkel im Kanzleramt. (Foto: Fabrizio Bensch/Reuters)

Grenze auf, Grenze zu: Was die Zahl der Ankommenden betrifft, wagt niemand Prognosen. Aber viele wagen die Frage, ob die Kanzlerin überhaupt einen Plan hat.

Von Nico Fried und Robert Roßmann, Berlin

Und wie geht's jetzt weiter? Das ist ein guter Ort, um darüber zu reden. Im Berliner Tempodrom veranstaltet die CDU einen Kongress für Mitglieder und andere Menschen. 1500 sind an diesem Samstag gekommen. Was sie hier erfahren, können sie gleich draußen weitererzählen, in der Partei, im ganzen Land. Auch dort wartet man ja auf Antworten. Es geht um die Zukunft, darum, wie sich Deutschland verändern wird. Und die Hauptrednerin ist die Frau, von der vor allem ein CDU-Mitglied natürlich als Erstes erwartet, dass sie weiß, wo's langgeht: die Bundeskanzlerin.

Angela Merkel sagt, es sei in der Geschichte immer so gewesen, dass große Veränderungen auch Sorgen und Ängste hervorgerufen hätten. Aber der Wandel sei trotzdem gekommen. Deshalb wirbt sie darum, den Anschluss zu halten an eine Entwicklung, die unaufhaltsam sei. Unaufhaltsam? Manch ein Zuhörer mag doch erleichtert sein, dass die Kanzlerin in einer Kulisse aus überdimensionalen Smartphones über die Digitalisierung spricht. Und nicht über die Flüchtlingswelle.

Chronik einer Kapitulation: Der Druck auf Merkel wurde zu groß. Er kam von allen Seiten

Es ist ansonsten ja das Thema, das in diesen Tagen alles dominiert, die Politik sowieso, die Nachrichten, die Fernsehbilder, die Gespräche. Wie geht's jetzt eigentlich weiter mit den vielen Menschen, die schon da sind, und denen, die noch kommen werden? Und wie viele werden noch kommen? Und wo bringt man sie unter? Ein Kongress übers Digitale, mit Foren, die Open Space heißen, - das wirkt ein wenig wie eine willkommene Ablenkung von den Problemen draußen. Aber man entkommt dem anderen Thema kaum noch. Die Kanzlerin schon gar nicht. Hier auf dem CDU-Kongress geht es um eine technische Revolution, von der Merkel glaubt, dass sie das Leben in der Zukunft einfacher machen kann. Einen Tag später erzwingt die Gegenwart jedoch erst einmal einen Schritt der Bundeskanzlerin, der dazu dienen soll, dass nicht alles noch viel schwieriger wird. Nichts steht so sehr für die Überwindung von Grenzen wie die Digitalisierung der Welt. Die immer weiter anschwellende Zahl an Zuflucht Suchenden, die jeden Tag nach Deutschland kommen, lässt dagegen Grenzen wieder entstehen, die längst verschwunden waren. Aber der Druck auf Merkel ist zu groß geworden.

Er kam fast von allen Seiten - Chronik einer Kapitulation. Der Samstag, an dem Merkel hinters Rednerpult steigt, um über den Breitbandausbau zu sprechen, über die digitale Fabrik der Zukunft und über die Abwägung von Chancen und Risiken, ist auch der Tag, an dem der Streit in der Union über die Flüchtlingspolitik recht unverhohlen ausbricht. Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer hat die Entscheidung Merkels vom vorvergangenen Wochenende kritisiert, für Tausende Flüchtlinge, die zu Fuß auf einer Autobahn in Ungarn unterwegs waren, die Grenze zu öffnen und sie damit vor einem Marsch ins Ungewisse zu bewahren. "Das war ein Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird", hatte Seehofer im Spiegel gesagt. "Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen."

Man kann schon darüber sinnieren, ob das ein sehr geglücktes Bild ist, das Seehofer da benutzt hat, weil es assoziiert, die Flüchtlinge müssten wieder eingesperrt werden und dann, plopp, Stöpsel drauf, Fall erledigt, was im Umgang mit Menschen, die oft in Booten oder Lastwagen eingepfercht waren wie Vieh, etwas merkwürdig anmutet. Aber natürlich hat der CSU-Chef das im übertragenen Sinne gemeint; den Geist, der aus der Flasche entwichen ist, hat er gemeint.

Merkels Geist.

Die Entscheidung in jener Nacht von Freitag auf Samstag, mehr aber noch ihre Folgen haben eine gewisse Ratlosigkeit im Land verursacht und nicht zuletzt in der Union. Man kann das auch im Tempodrom beobachten, als Merkel zu Beginn ihrer Rede das unvermeidliche Thema anspricht. Keine Hand rührt sich, als sie sagt, die Grenzöffnung sei richtig gewesen. Erst als Merkel fordert, die anderen Europäer müssten helfen, man müsse über die Grenzsicherung reden, mehr Geld für die Auffanglager geben, die näher an den Herkunftsländern der Flüchtlinge liegen, und natürlich die Ursachen in diesen Ländern bekämpfen, da klatschen die Zuhörer immer wieder. Und auch, als Merkel von denen redet, die nicht bleiben dürften, von denen, die nicht schutzbedürftig seien und keine Bleibeperspektive hätten. "Das müssen wir denen auch ganz klar sagen."

Von all diesen Ansätzen ist aber auch schon ziemlich lange die Rede, ohne dass etwas vorangegangen wäre, und jeder weiß, dass es noch einige Zeit dauern wird. Aber was passiert in den nächsten Tagen? Hat die Kanzlerin einen Plan? Währt die Ausnahme, von der alle mit Blick auf die Grenzöffnung sprechen, nicht schon so lange, dass es allmählich eher eine Ausnahme wäre, wenn die Grenze mal geschlossen würde? Es fällt auf, dass niemand mehr aus der Regierung eine Prognose wagt, wo doch die alte Vorhersage von 800 000 Menschen in diesem Jahr keinen Bestand mehr haben kann, wenn allein an einem Wochenende wie diesem 15 000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, vielleicht auch 20 000. An diesem Montag treffen sich die europäischen Innenminister, und der deutsche Minister Thomas de Maizière hat angekündigt, darum zu kämpfen, dass andere Staaten mehr Flüchtlinge aufnehmen. "Deutschland sieht sich in einer Situation, wo wir an Grenzen stoßen", sagt der Vizekanzler Sigmar Gabriel am Samstag in Hildesheim. Die Geschwindigkeit, in der die Flüchtlinge kämen, sei "fast noch problematischer als die Zahl".

Deutschland droht den Anschluss zu verlieren. Wie so oft wird in Europa wohl auch in dieser Krise so lange verhandelt und gerungen, bis es wieder eine Nachtsitzung mit Konflikten und Kompromissen gibt. Merkel kennt das. Sie hat die Nerven dafür. Aber hat sie auch die Zeit? Es sind an diesem Wochenende einige kritische Stimmen, die sich in der CDU melden. Die Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach zum Beispiel twittert, die deutsche Flüchtlingspolitik erinnere sie an Goethes Gedicht vom Zauberlehrling: Die Geister, die ich rief, die werd' ich nicht mehr los. Auf einem Sommerfest in ihrem Frankfurter Wahlkreis, so Steinbach weiter, sei die Meinung über die Flüchtlingspolitik einhellig gewesen: Daumen runter. Steffen Bilger, Vorsitzender der Jungen Gruppe in der Unionsfraktion, zieht das Fazit eines, wie er sagt, "intensiven Wahlkreistags" und schreibt ausdrücklich dazu, dass er dabei noch vorsichtig formuliere: "Die CSU erfreut sich ungeahnter neuer Beliebtheit." Unsicherheit kriecht in die CDU. Das ist Seehofers Geist. Am Sonntag kommt dann ein erstes Regierungsmitglied dazu, nicht so drastisch in der Wortwahl, aber auch von einer Skepsis angetrieben, die Merkel mit ihrem Satz "Wir schaffen das" doch eigentlich wegmotivieren wollte. Jens Spahn, Staatssekretär im Finanzministerium, glaubt, dass die positive Stimmung im Lande sich "stündlich" ändere. "Die Debatte wird in wenigen Tagen ganz anders aussehen", sagt Spahn.

Die "übergroße Mehrheit" sei in Sorge. In Berlin hat die Kanzlerin im Bundestag gesagt, sie sei überzeugt, "dass wir, wenn wir es gut machen, wenn wir es mutig angehen, wenn wir nicht verzagt sind, sondern Ideen suchen, wenn wir kreativ sind, letztlich nur gewinnen können". Aber draußen im Land hören die Abgeordneten Töne, die ganz anders klingen. Früher wurde Merkel oft auch von den eigenen Leuten entschlossen des Zauderns geziehen. Jetzt ist Merkel mal entschlossen, da zaudert die CDU. Schön für Merkel, dass sie sich auf die anderen Parteien verlassen kann.

Horst Seehofer nennt die letzten acht Tage eine "Kapitulation des Rechtsstaats". Und wie weiter?

Selbst die Linkspartei unterstützt die Kanzlerin in dieser Krise hie und da, Gregor Gysi im Bundestag, aber auch der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow findet lobende Worte. Cem Özdemir, der Grünen-Vorsitzende, sagt, Merkel habe den richtigen Ton getroffen. Und die SPD steht sowieso auf der Seite der Kanzlerin. Wenn Merkel schon nicht gegen Horst Seehofer keilt, dann tun es eben die Sozialdemokraten wie Generalsekretärin Yasmin Fahimi, die der CSU vorhält, sie sei in diesen schwierigen Zeiten nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Aber das sind politische Spiele. Sie mindern den Druck nicht. Am Sonntagnachmittag wabern erste Gerüchte durch Berlin, die Bundesregierung erwäge, noch am selben Abend die Grenzkontrollen wieder einzuführen. "Wir brauchen eine Atempause", sagt jemand, der an den Gesprächen beteiligt ist. Außerdem müsse man den anderen Europäern deutlich machen, dass die Belastungsgrenze erreicht sei. "Die bewegen sich nicht, wenn Deutschland weiter so tut, als könnten wir alles." Sondersitzungen werden anberaumt, Telefonkonferenzen, zum Beispiel der SPD-Führung. Um 17.38 Uhr verkündet Innenminister Thomas de Maizière: Deutschland führt an den Grenzen wieder Kontrollen ein, Schwerpunkt Österreich. In München verkündet Horst Seehofer, dass er Merkel die Wiedereinführung der Grenzkontrollen vorgeschlagen habe. "Wir hatten die letzten acht Tage eine Kapitulation des Rechtsstaats", sagt der CSU-Chef. Dadurch sei eine "Völkerwanderung ausgelöst" worden. Grenzkontrollen - das bedeutet, dass die Ausnahme von der Regel nun zu Ende ist. Es bedeutet, dass der Geist Angela Merkels wieder in der Flasche ist.

© SZ vom 14.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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