25 Jahre deutsche Einheit:Wir Wendekinder

25 Jahre deutsche Einheit: Große Freiheit? Oder eine Zeit der Orientierungslosigkeit? Für die Wendekinder läutetete der Mauerfall die prägende Phase ihres Heranwachsens ein - die sie völlig unterschiedlich wahrnahmen.

Große Freiheit? Oder eine Zeit der Orientierungslosigkeit? Für die Wendekinder läutetete der Mauerfall die prägende Phase ihres Heranwachsens ein - die sie völlig unterschiedlich wahrnahmen.

(Foto: Imago)

Als die deutsche Einheit kam, lebten in der DDR 2,4 Millionen Kinder, die zwischen 5 und 15 Jahre alt waren. Die Welt, in die sie geboren worden waren, hatte sich gedreht. Für unsere Autorin läutete der Mauerfall das Ende ihrer Kindheit ein.

Von Ulrike Nimz

An dem Punkt, an dem sich alles zum Guten wenden sollte, sah es eigentlich nicht danach aus. Der Oktober 1990 war trüb, Nebel hing über allem, und die Welt schien zu dampfen. Das weiß ich, weil es Videoaufnahmen aus diesen Tagen gibt. Zu sehen ist ein Sofa. Es steht inmitten von Pfützen und Reifenspuren, gelber Schaumstoff quillt heraus. Im Grau des Tages zeichnet sich das dunklere Grau von Plattenbauten ab, und für einen Moment ist nicht klar, ob Rohbau oder Ruine, ob da was entsteht oder vergeht, bis zwei Kinder ins Bild gerannt kommen, ihre Jacken sind bunt. Sie klettern auf das Sofa und beginnen auf und ab zu springen, erst zaghaft, dann mit Schwung, ihr Atem macht Wölkchen.

An den Tag, als meinem Bruder und mir ein Sofa als Spielplatz reichte und meine Mutter mit der Kamera draufhielt, kann ich mich nicht erinnern. Aber ich weiß, dass die Bettenburg aus Beton, die sich da im Nieselregen erhob, unser neues Zuhause war. Vier-Raum-Wohnung, Zentralheizung, Badewanne und das Klo nicht mehr im Keller. In aller Eile waren die Wohnblocks im Rostocker Stadtteil Toitenwinkel hochgezogen worden. Es gab noch keine Bürgersteige, nur den Weg, den man sich suchte, und Schlamm, der Kinderstiefel fraß. Ich war damals gerade sieben und eingeschult worden. Auf meiner Zuckertüte prangte das Sandmännchen, darin steckte eine Mickymaus aus Plüsch. Außen noch Sozialismus, innen schon Kapitalismus. Ein Detail, gerade hübsch genug, um es ein Vierteljahrhundert später mit Bedeutung aufzuladen.

Für die Wendekinder läutete der Fall der Mauer das Ende der Kindheit ein

Nun geht es also wieder um jenen Oktober. Für gewöhnlich ist es alle fünf Jahre so weit oder wenn das Land vor großen Herausforderungen steht, das "Wir" wieder wichtig wird - Fußball-WM, Elbe-Flut, Flüchtlingskrise. Der 3. Oktober ist auch die Zeit, in der Bilanz gezogen wird und das Damals Konjunktur hat. Meist kommen dabei jene zu Wort, die dabei oder in Verantwortung waren, als die Mauer fiel, Politiker, Bürgerrechtler, Zeitzeugen aller Art. Dabei könnte es Sinn machen, jene zum Einheitsprozess zu befragen, die zur Wende noch Kinder waren. Wir - die zwischen 1975 und 1985 in der DDR Geborenen - kennen keine Repression und keine Schuldfrage, wir blicken kühl auf das, was war, und das, was ist. So weit die Theorie.

Sozialwissenschaftler gehen davon aus, dass die Erfahrungen, die man während der Adoleszenz macht, die prägendsten des Lebens sind. In meinem Fall betrifft das nicht den Untergang der DDR, sondern die Zeit danach, die 90er, als die Strophen der Internationale in Vergessenheit gerieten, aber jeder, der einen Fernseher besaß, "Werner - Beinhart!" auswendig konnte. Diese Jahre werden von den Kindern der Wende mal als große Freiheit beschrieben und mal als Zeit der Orientierungslosigkeit.

Auch dafür gibt es eine Theorie: Während jene, die sich zur Zeit des Mauerfalls in der Pubertät befanden, es kaum erwarten konnten, sich von den Eltern loszusagen und aufzubrechen, erlebten die ab 1980 Geborenen den Zusammenbruch der gewohnten Ordnung als Bedrohung. Sie hatten sich nicht beim Fahnenappell die Füße plattstehen oder die Bravo unterm Pullover verstecken müssen. Erlebten sie die Enge des Planstaates noch als Geborgenheit, läutete der Fall der Mauer für sie das Ende der Kindheit ein.

Unser Plattenbautraum in Rostock-Toitenwinkel wurde von den Kids bald "Totenwinkel" oder einfach "Ghetto" genannt. Und wie in den amerikanischen No-go-Areas spielte sich das Leben jenseits der Acht-Quadratmeter-Kinderzimmer in den Innenhöfen ab. Dort gab es Mädchen, die versuchten, ein Blumenbeet auf Schotter anzulegen. Es gab Jungen, die Fahrräder klauten und sie einem zurückverkauften, wenn man nett fragte. Und Typen, deren Spezialität es war, andere dazu zu bringen, für fünf Mark Hundescheiße zu fressen.

Es war tatsächlich eine Zeit, in der Traum und Trauma dicht beieinanderlagen, auch, weil viele Eltern zu sehr mit sich beschäftigt waren, um zu bemerken, dass der Nachwuchs nun seinerseits damit begann, Grenzen einzureißen. Der Soziologe Bernd Lindner spricht in diesem Zusammenhang von einer "Generation der Unberatenen" und meint junge Menschen, die von nahezu allen Erziehungsinstanzen alleingelassen wurden, privaten wie staatlichen. Eltern, Lehrer, Kirchen, Jugendträger - sie alle hatten die Regeln des neuen Systems noch nicht verinnerlicht. Und weil sie nicht länger mit Erfahrungen dienen konnten, dienten sie auch nicht mehr als Vorbilder.

Mit Onkel Dagobert in die soziale Marktwirtschaft

Meine Eltern kauften von ihrem Begrüßungsgeld ein "Lustiges Taschenbuch" in einem Antiquariat in Lübeck. Auf dem Cover umarmte Onkel Dagobert seinen Glückskreuzer. Titel: "Der Boss bin ich". Das war ihre Art, die soziale Marktwirtschaft zu begrüßen, und allemal nachhaltiger, als sich einen durchgerosteten Opel Kadett andrehen zu lassen. Sie wurden nicht arbeitslos oder über den Tisch gezogen, aber bis sie begannen, mit ihren Kindern über die DDR zu sprechen, vergingen Jahre.

Sie erzählten von grauen Männern, die klingelten, um sich nach der Nachbarin zu erkundigen, danach, wie sie es mit der Sauberkeit halte und mit der Westverwandtschaft. Von den Saufgelagen bei der NVA, bei denen es immer mal wieder vorkam, dass sich jemand aus Unachtsamkeit oder mangelnder Zuversicht den Kopf wegschoss. In anderen Familien jedoch dauerte die Sprachlosigkeit an.

Unter dem Namen "Dritte Generation Ostdeutschland" hat sich 2009 ein Teil der Wendekinder zusammengefunden - auch, um das Schweigen zu beenden. Sie folgten den Thesen von Autoren wie Tanja Bürgel und Wolfgang Engler, Jana Hensel und Jana Simon, sie attestierten den Wendekindern eine ausgeprägte Krisenwahrnehmung, die Fähigkeit gesellschaftliche Umbrüche besser zu überstehen als andere. Aber sie mussten bald feststellen, dass es ein "Wir" bei 2,4 Millionen Wendekindern nicht geben kann. Dass sie Stimme einer großstädtischen, verkopften Vorhut waren, aber nicht für die sprachen, die zurückgeblieben waren, sich mit den Enttäuschungen ihrer Eltern identifizierten.

Die 90er: Das Jahrzehnt der Drogenkarrieren und Drogerie-Karrieren

Während die Generation Golf im Westen noch entspannt Richtung Festanstellung gerollt war und nichts mehr zu wollen schien außer noch mehr, als sie ohnehin schon besaß, hatten viele Wendekinder gelernt, stets in Erwartungen der nächsten großen Krise zu leben und die Erwartungen an das Leben möglichst klein zu halten. Vermögen, Rücklagen zur Überbrückung von Sinnsuche-Monaten gab es in vielen Familien nicht. Gefühlt war das Jahrzehnt nach dem Mauerfall das der Drogenkarrieren und Drogerie-Karrieren, wenn man die Arbeit als Verkäuferin so bezeichnen mag, und nicht immer konnte man sicher sein, wer es besser getroffen hatte.

Als ich schließlich im Zug gen Westen fuhr, um für ein Stipendium vorzusprechen, war die Mauer seit 20 Jahren weg. In Stuttgart - diesem Kessel am Ende des Regenbogens - interessierte trotzdem meine "Ostsozialisation". Eine Referentin bekannte, mal am Bahnhof Köthen gestrandet zu sein, und es klang, als meinte sie Kongo. Es mag der Sache nicht dienlich sein, aber statt Rechtfertigungen schiebe ich in solchen Fällen ein paar Plattenbau-Geschichten nach. Auch weil es wenig Besseres gibt als Söhne und Töchter schwäbischer Dörfer, die einen angucken, als wäre man von Wölfen großgezogen worden.

Ostdeutsch zu sein, so berichten es viele, die mittlerweile in Hamburg, Freiburg, Kassel leben, ist noch immer so etwas wie ein Muttermal. Aber keines, das geflissentlich übersehen wird, sondern eines, nach dem jeder fragt. Das hat manchmal etwas mit Erkenntnisinteresse zu tun, öfter mit dem irgendwie vermessenen Anspruch, dass man sich zu diesem Teil seiner Vergangenheit zu verhalten hat.

Das Wort Rostock reicht, um das Gespräch rechts abbiegen zu lassen

In meinem Fall reicht meist das Wort Rostock, um das Gespräch rechts abbiegen zu lassen. Denn Rostock ist eben nicht nur das Meer und die Geburtsstadt des amtierenden Bundespräsidenten, sondern auch die Stadt, in der einige nach der Wende ihr Loser-Image abzustreifen versuchten, indem sie Bomberjacken überstreiften.

Als in Lichtenhagen Hunderte Flüchtlinge vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber campieren mussten, weil es drinnen keine Betten mehr gab, ging es den Anwohnern selten um die Not der Menschen und erstaunlich oft darum, wo sie ihre Notdurft verrichteten. Und wer sich später umhörte in der Stadt, der bekam viele Theorien zu den Augustnächten von 1992 zu hören. Mal waren West-Neonazis für die Eskalation verantwortlich, mal ignorante Politiker, mal die Ausländer, die Möwen fingen und grillten (so schrieb es eine Lokalzeitung). Nie die Rostocker.

Die Goldenen Zitronen haben zwei Jahre später einen Song über dieses Deutschland der Pogrome geschrieben:

"Das bisschen Totschlag bringt uns nicht gleich um, sagt mein Mann. / Ich kann den Scheiß einfach nicht mehr hörn, sagt mein Mann. / Ist ja gut jetzt alte Haut, wir ham schon Schlimmeres gesehn. / Und ich sag noch: Lass uns endlich mal zur Tagesordnung übergehn."

Es hat ja schon oft Punkbands gebraucht, um in diesem Land die Dinge beim Namen zu nennen.

Heute ist "Schrei nach Liebe", ein anderer Anti-Nazi-Song der Band Die Ärzte, wieder in den Charts und der Osten in den Schlagzeilen. Das liegt an Pegida, das liegt an den Frustrierten, die vor einer Flüchtlingsunterkunft in Heidenau randalierten, das liegt an Beate Zschäpe, die in einem Münchner Gerichtssaal schweigt. Plötzlich gibt es wieder ein helles und ein dunkles Deutschland und den nachvollziehbaren Reflex, das mit alten und neuen Bundesländern gleichzusetzen.

Was aber wäre, wenn es dieses Ostdeutschland, von dem gerade alle reden, gar nicht mehr gibt? So lautet die These des Soziologen Heinz Bude, er formulierte sie im Februar in Dresden, zu einer Zeit also, als dort noch jeden Montag bis zu 25 000 Leute "Wir sind das Volk" riefen. Der Osten, so Bude damals, sei längst eine fragmentierte Gesellschaft, in der sich die Gewinner der Wende und jene, die sich übergangen fühlen, voneinander abgewandt haben. Denkt man das weiter, dann verliefe der Graben in Deutschland nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen denen, die gut leben und denen, die den Anschluss verloren haben.

Warum rechte Parolen in der ostdeutschen Provinz so oft unwidersprochen bleiben, erklärt es nicht. Das Verstummen, das Abducken ist das Erbe des autoritären Staates, heißt es oft. Vielleicht müssen sich aber auch die Wendekinder fragen, ob sie nicht dazu beigetragen haben, indem sie gingen und die Heimat jenen überließen, die nichts anderes hatten, worauf sie stolz sein konnten.

Vielleicht ist "Osten" irgendwann kein politischer Begriff mehr

Zum 20. Mauerfalljubiläum 2009 war es die ehemalige DDR-Bürgerin Angela Merkel, die Bilanz zog: Sie verfolge mit großer Freude, dass man bei den jungen Menschen nicht mehr unterscheiden könne, ob sie aus dem Osten oder aus dem Westen kommen. Und vielleicht ist "Osten" irgendwann wirklich kein politischer Begriff mehr, sondern ein geografischer.

Bis es so weit ist, mache ich mir weiter Gedanken darüber, was mich von anderen unterscheidet. Dass ich Vier-Raum-Wohnung sage, statt Vier-Zimmer-Wohnung? Dass ich noch immer mit dem Volksfest fremdle, das dafür sorgt, dass München im Oktober und zum Tag der Deutschen Einheit kollektiv verkatert ist? Oder wurzelt Identität nicht ganz woanders?

Einige Zeit bevor ich Rostock verließ, besuchte ich mit ein paar Freunden die Sky Bar im 19. Stock des Hotel Neptun am Strand von Warnemünde. Fünf Sterne, und schon zu DDR-Zeiten das beste Haus am Platz. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben, setzten uns auf den Boden, eine Dose Pilsator zwischen die Knie geklemmt. Angeblich das Bier, das sie am 9. November 1989 auf der Mauer getrunken haben. Nicht dass uns das interessiert hätte. Dass Pilsator rückwärts gelesen wie "roter Slip" klang, war uns subversiv genug. Mit dem Wissen, dass hier Erich Honecker und Fidel Castro, Udo Lindenberg und die Kanzlerin abgestiegen waren, warteten wir ab, was die feine Gesellschaft mit uns zu tun gedachte.

Und dann kam die Bedienung und bat uns höflich zu bestellen, und wir bestellten einen Sex on the Beach mit vier Strohhalmen und tranken und schwiegen, und die Aussicht war großartig.

Ulrike Nimz, 32, ist an der Ostsee aufgewachsen, nach dem Studium in Leipzig und Rostock schrieb sie Reportagen für die Chemnitzer Tageszeitung "Freie Presse". 2015 zog sie nach München. Sie arbeitet im Innenpolitischen Ressort der SZ.

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