Nachruf:Enfant flexible

Er war Kritiker, Autor und Mitstreiter im Fernseh-Rezensentenstadl "Literarisches Quartett". Nun ist der Feuilletonist Hellmuth Karasek im Alter von 81 Jahren gestorben.

Von Christopher Schmidt

Es ist schon ein merkwürdiger Zufall, dass sich die Nachricht vom Tod Hellmuth Karaseks ausgerechnet am Morgen des Tages verbreitete, an dem in Berlin die Neuauflage des "Literarischen Quartetts" aufgezeichnet wurde. Zwölf Jahre lang war die Sendung, die ihn einem breiten Publikum bekannt gemacht hatte, sein zweites Wohnzimmer gewesen. Als das ZDF eine Wiederbelebung der Gesprächsrunde mit neuer Besetzung ankündigte, hat Karasek in der Welt noch mal selbstironisch über die "gute alte Zeit" geschrieben, unter dem Motto: "Damals musste man die Tauchsieder noch ab und zu entkalken."

Dabei hatte er damals eine eher undankbare Rolle gespielt, als Stichwortgeber von Marcel Reich-Ranicki. Und als Klassenclown, der sich mit Einwürfen wie "Einspruch, Euer Ehren" oder "Halten zu Gnaden" lustig machte über den Oberlehrer des Literaturbetriebs, dessen Fußabtreter Karasek zugleich war. Auch dank ihm konnte Reich-Ranicki noch stärker in die Rolle des Präzeptors hineinwachsen. Karasek lieferte verlässlich die Vorlagen und zog sich, vom Meister in die Schranken gewiesen, allenfalls gelegentlich mit schwellender Unterlippe in den Schmollwinkel zurück. "The show must go on", dem Hollywood-Kenner Karasek musste man das nicht zweimal sagen.

Aus seiner Liebe zum Film ist eine Billy-Wilder-Biografie hervorgegangen

Mit Diktaturen hatte er schließlich seine Erfahrungen. Geboren 1934 im mährischen Brünn, war schon die kurze Zeit an der Nazi-Eliteschule Napola nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Auch später wollte Karasek stets zu den Alphatieren gehören und machte eine steile Karriere als Jung-Star und Überflieger des Feuilletons. Traumatisch war dagegen das Erlebnis, als er bei einem Fluchtversuch aus der DDR gefasst und gezwungen wurde, das Fahrrad des Grenzers zu putzen. Von dieser Demütigung hat Karasek immer wieder erzählt. Die Fünfzigerjahre verbrachte er nach der geglückten Übersiedlung als Wirtschaftswunderkind in Stuttgart, dann in Tübingen, wo er Germanistik, Geschichte und Anglistik studierte und mit einer Arbeit über das "schmückende Beiwort" promoviert wurde. Die Studentenbude teilte er sich mit Rolf Michaelis. Jahrzehnte später wurden die beiden Kollegen im Feuilleton der Zeit.

Karasek kam nach dem Studium als Theaterkritiker zur Stuttgarter Zeitung, stieg mit 32 Jahren zum Feuilleton-Chef auf, gastierte für eine Spielzeit als Chefdramaturg am Stuttgarter Staatstheater, bevor er 1968 nach Hamburg ging. Dort schrieb er zunächst Theaterkritiken für die Zeit, wechselte danach zum Spiegel, dessen Kulturressort er bis 1991 leitete. Beim Spiegel wurde der Film seine Domäne - aus dieser Liebe ist unter anderem eine Billy-Wilder-Biografie (1992) hervorgegangen. Und er avancierte zum Lieblingsjünger des launischen Herausgebers Rudolf Augstein, den Karasek als eine Art Hofnarr mit launigen Schnurren aus Hollywood aufzuheitern hatte, wenn die Stimmung des Patriarchen sich mal wieder eintrübte.

Karasek war ein schneller und gewandter Schreiber. Einer der vielen Legenden zufolge, die über ihn kursieren, soll er einmal mit einer Freundin im Kino gewesen sein und ihr nach der Vorstellung gesagt haben, er müsse nur kurz mal telefonieren. Tatsächlich gab er am Telefon seine Film-Kritik an die Redaktion durch. Aber gleichgültig, um welchen Gegenstand es ging - Karasek fand mit großer Sicherheit das schmückende Beiwort, auch weil er nie der Sklave einer Sparte, sondern von jeher breit gefächert war. Trotzdem fiel er beim Spiegel irgendwann in Ungnade. Als sein Drehbericht zu Helmut Dietls "Rossini - oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief" abgelehnt wurde, weil Karasek bereits am Drehbuch zu Dietls Film "Schtonk!" über die gefälschten Hitler-Tagebücher mitgearbeitet hatte, kam es zum Bruch. Dieselbe Vielseitigkeit, die ihn, das geborene enfant flexible, groß gemacht hatte, brachte ihn schließlich zu Fall.

Später verarbeitete Karasek seine Spiegel-Zeit in dem Schlüsselroman "Das Magazin" (1998). Mit diesem Buch debütierte er zugleich als Romancier. Ein umtriebiger Geist war er schon davor gewesen. Früh trat sein Schreibfluss über die Ufer der Zeitungsspalten. Karasek schrieb Theaterstücke unter dem nicht wirklich an Camouflage interessierten Pseudonym Daniel Doppler. Als Komödienautor wollte er ein deutscher Woody Allen sein, bevor er sich nach einigen Verrissen ganz auf die Prosa verlegte. Er verfasste Monografien über Max Frisch und Carl Sternheim sowie Drehbücher und übersetzte aus dem Englischen, unter anderem Raymond Chandler.

Von 1988 an gehörte er zum festen Stamm des "Literarischen Quartetts" und dehnte damit seinen Wirkungskreis auf das Medium Fernsehen aus. Auch wenn er als Mitherausgeber des Berliner Tagesspiegels von 1997 bis 2004, als unermüdlicher Kolumnen- und Glossen-Autor für die Welt, die Berliner Morgenpost und das Hamburger Abendblatt weiterhin journalistisch tätig war, so wurde er doch zu einem Fernsehgesicht und Teil der Unterhaltungssparte. Als "Kulturbeutel" hat ihn Roger Willemsen deshalb sogar einmal im Magazin dieser Zeitung bezeichnet. Dabei war Karasek, der nach dem Prinzip lebte "Eine gute Pointe ist besser als eine schlechte Welt" und gerne mal vor laufender Kamera einen Blondinenwitz erzählte, immer schon ein Mann der Quote und der gelegentlichen Zote gewesen. Er hatte einen Hang zum Boulevard und nicht das geringste Problem mit einem tiefer gelegten Kulturbegriff.

Auch das war biografisch bedingt: Die Erfahrungen mit dem deutschen Totalitarismus waren für ihn offenkundig wie eine Schluckimpfung gegen jedes falsche Pathos gewesen. Heimatverlust, Flucht und Vertreibung hatten ihm einerseits das Durchsetzungsvermögen verliehen, sich in den Wiederaufbaujahren seinen Platz zu erobern, andererseits die nötige soziale Geschmeidigkeit, um Widerstände eher zu umgehen als zu überwinden. Hinzu kam die prägende Begegnung mit der amerikanischen Kultur, die für ihn eine Befreiung war, Rettung vor dem Mief der Nachkriegszeit und der damals noch undurchlässigen Grenze zwischen E und U.

Hellmuth Karasek wurde zum Allrounder und intellektuellen Entertainer, der stets wusste, dass das erste Gebot des Kritikers lautet: Du sollst nicht langweilen! Als Feuilletonist war er ein Autor von angelsächsischem Zuschnitt. Statt mit einem Literaturkanon herumzufuchteln, zog er aus der vergleichenden Lektüre der Weltliteratur seine Schlüsse, die er in ebenso elegante wie pointensichere Formulierungen fließen ließ, nie dozierend, sondern locker parlierend. Ein gewitzter Kulturkulinariker mit Charme und Chuzpe, Understatement und Humor, beelzebübischem Unernst und profunder Respektlosigkeit.

Vor der Kamera schließlich konnte Karasek seine Qualitäten als Causeur und Anekdotenschleuder voll ausspielen. Allerdings trug ihn seine Fernsehpopularität mitunter weiter, als ihm guttat. Karasek wurde zum gefragten Talkshow-Insassen und war sich auch für keine Quizshow zu schade. Darüber wurde aus dem Großkritiker Karasek der Großkritiker-Darsteller Karasek. Nach dem Tod von Marcel Reich-Ranicki musste er auf dem verwaisten Thron des Literaturpapstes Platz nehmen, vor dem er den Kniefall stets beharrlich verweigert hatte.

Er bohrte auch dünne Bretter mit der gespielt feierlichen Gravität des gottgleichen Kritikers

Genauso wie Karasek Bürger zweier deutscher Staaten gewesen war, war er in zwei Kulturen zu Hause, der alten, abendländisch und elitär orientierten Hochkultur und der neuen, weltoffenen Popkultur, die erst entstand. Insofern liegt eine gewisse Ironie darin, dass Hellmuth Karasek, der bis zuletzt ein Buch nach dem anderen schrieb - allein 2013 waren es zwei: "Auf Reisen. Wie ich mir Deutschland erlesen habe" sowie "Frauen sind auch nur Männer" - und bei zahllosen Auftritten und Buchmessen routiniert wegmoderierte, was auf den Tisch kam, zuletzt am meisten Aufmerksamkeit mit einem Werbe-Clip erregte. Im Video rezensiert Karasek den Ikea-Katalog, und zwar im Auftrag des schwedischen Möbelhauses. Das hat ihm Klicks und Häme gleichermaßen eingetragen. So bohrte er das dünne Brett mit der gespielt feierlichen Gravität des gottgleichen Kritikers, der längst zum Denkmal seiner selbst erstarrt ist.

Nun sollten Kritiker eher Bücher besprechen als die Billy-Regale, in denen sie stehen, aber über Selbstzweifel war Hellmuth Karasek noch nie erhaben, er ist vielmehr lieber listig und lässig unter seinem eigenen Niveau durchgeschlüpft. Schließlich lag ihm die Rolle des Puck, des stets zu Streichen aufgelegten Trolls aus Shakespeares "Sommernachtstraum", immer mehr als die des edlen Elfenkönigs. Und nur wohnen wollte Karasek ohnehin nicht im Kulturbetrieb, er wollte ihn leben. Er sei Journalist geworden, um an der großen Welt teilhaben zu können, und zwar "nicht als stiller Teilhaber dieser Welt, sondern als lärmender", hat er einmal gesagt. Am Dienstag ist der Mann, der so gerne mit todernster Miene Witze erzählte, in Hamburg gestorben. Er wurde 81 Jahre alt.

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