Flüchtlinge in der Ukraine:Ihre Heimat ist Sperrgebiet

Crisis in Ukraine

Es fehlt am Nötigsten: Menschen, die vor den Kämpfen in der Ostukraine fliehen mussten, in einer Notunterkunft in Slowjansk in der Gegend von Donetzk.

(Foto: Roman Pilipey/dpa)

Im Schatten des Syrien-Kriegs spielt sich eine weitere Flüchtlingskrise ab. 1,4 Millionen Ostukrainer sind Vertriebene im eigenen Land. Viele stehen vor den Ruinen ihres Lebens.

Von Cathrin Kahlweit, Wien, und Frank Nienhuysen, Odessa

Viktoria Perepelytsia ist gleich zweimal geflüchtet. Den ersten Entschluss fasste sie hoch oben in ihrer Wohnung in Horliwka, im Osten der Ukraine. Vom 9. Stock aus hatte sie einen guten Ausblick, die ganze Stadt konnte sie betrachten und genießen, aber an einem Juli-Tag 2014 saß sie auf ihrem Wohnzimmersofa und sah den Krieg, den Granatenbeschuss, die hochziehenden Rauchschwaden. Und sie spürte die Erschütterungen.

Damals machte sie sich mit ihrem dreijährigen Sohn auf die Flucht. Viktoria Perepelytsia wollte nur noch fort. Mit dem Lada fuhr sie zu ihren Eltern, nach Debalzewe. Sicher war sie auch dort nicht.

Es folgte die Zeit der Belagerung, Stunden und Tage im Keller. "Ich hatte Angst, das alles nicht zu überleben", sagt sie. In einem ruhigen Moment flüchtete sie das zweite Mal.

"Macht schnell", rief ein Soldat, dann fuhr sie weiter Richtung Charkiv, nach Mykolajiv, bis nach Odessa. Viktoria Perepelytsia, 28 Jahre alt, sagt trotzdem, "ich fühle mich nicht als Flüchtling. Nach Waschpulver, Windeln und Lebensmitteln habe ich nie gefragt. Ich hatte ja etwas Geld."

Und jetzt hat sie auch einen Job. Die Ukrainerin hat in Odessa eine Stelle als Deutschlehrerin gefunden, und hier will sie nun erst mal bleiben. Sie kann eine Mietwohnung bezahlen, und sie weiß, dass sie Glück hat. Andere Ukrainer haben es nicht.

Mehr als zwei Millionen Ukrainer auf der Flucht

Die Flüchtlingswelle aus Syrien nach Westeuropa hat zuletzt überdeckt, dass auch die Ukraine am Rande der Belastungsgrenze steht. Mehr als zwei Millionen Ukrainer sind seit Beginn des Kriegs in der Ostukraine auf der Flucht. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind mehr als 650 000 Menschen nach Russland geflohen, etwa 80 000 nach Weißrussland, mehrere Zehntausend nach Polen. Die Ukraine selber hat offiziell mehr als 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge zu verkraften.

Und weil das Land am Rande des wirtschaftlichen Kollapses steht, weil zudem die Separatisten in ihren "Autonomen Volksrepubliken" vor einigen Tagen alle größeren Hilfsorganisationen verbannt haben, warnte der ukrainische Caritas-Präsident Andrij Waskowycz mit Blick auf den baldigen Winter die EU vor einer neuen Flüchtlingswelle. Die staatliche Unterstützung sei gering, es fehle an Lebensmitteln, Decken, Medikamenten, Kleidern, Hygieneartikeln. Das Land sei mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert.

Allerdings: Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling. Wer aus der von Moskau annektierten Krim stammt, gilt offiziell als "Geflüchteter". Wer aus Donezk und Luhansk kommt, als "Übersiedler"; schließlich soll der Donbass ja zurückerobert oder zurückverhandelt werden, und dann sollen, theoretisch, zwei Millionen Menschen aus dem Osten in den Osten zurückkehren.

IDP, internally displaced persons, ist dafür der internationale Fachbegriff, und er passt für viele Ukrainer auch im Wortsinne: Ganze Unternehmen und Universitäten haben ihre Aktivitäten aus der Kampfzone hinaus nach Westen verlegt und ihre Angestellten mitgenommen, Ladenbesitzer ihre Einrichtung in ein neues Lokal ein paar hundert Kilometer weiter westlich verlegt. Der Staat zahlt Firmen Kompensationen, wenn sie Angestellte weiterbeschäftigen, selbst wenn die im Chaos nicht arbeiten können.

Menschen in Not - das sind all die anderen. Renten und Gehälter werden zwar offiziell weitergezahlt, wenn man sich als IDP, als Binnenflüchtling aus der so genannten Antiterrorzone, registrieren lässt. Aber der Registrierungsprozess ist bürokratisch und aufwendig, viele fallen durch die Raster des langwierigen Prozederes. Umgerechnet 20 Dollar pro Monat bekommen Flüchtlinge als Grundsicherung, und das auch nur für eine begrenzte Zeit.

Ukrainer vor den Ruinen ihres Lebens

Diejenigen, die arm, krank, alleinerziehend oder alleinstehend sind, die Firma oder Besitz verloren haben, deren Häuser ausgebombt wurden, sie alle stehen vor den Ruinen ihres Lebens. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind derzeit mehr als 90 Prozent der Flüchtlinge in der Ukraine bei Freunden und Verwandten untergebracht oder wohnen in Mietwohnungen, die übrigen in Flüchtlingszentren.

"Aber vielen geht allmählich das gesparte Geld aus", sagt Varvara Zhluktenko, Sprecherin der IOM in Kiew, "und durch die dramatische Abwertung der Hrywna sind die Preise für eingeführte Medikamente inzwischen dreimal so hoch wie vor einem Jahr."

Auf der Couch bei Freunden

Die immense Wirtschaftskrise mache es den Flüchtlingen zudem schwer, neue Arbeitsplätze zu finden. "Stellenangebote gibt es nur wenige, und die Löhne sind niedrig", sagt Zhluktenko. Viele der Flüchtlinge aus der Ostukraine hatten einst eine gut bezahlte Stelle in den Industriezentren im Osten, in den Stahlfabriken der lokalen Oligarchen oder in den zahlreichen Bergwerken.

Nun leben sie von Schwarzarbeit, wohnen bei Freunden auf der Couch oder in umgewidmeten Ferien- und Kinderheimen und wissen: Auch wenn der Waffenstillstand vorerst hält, ist an eine Rückkehr in die von den Separatisten besetzten Gebiete nicht zu denken. Zu viel Unsicherheit, Anarchie, Gewalt, Armut. Es gibt dort keine Arbeit, und vorerst auch keine Zukunft.

Die IOM, unterstützt von den UN, Norwegen und der EU, hilft so gut sie kann - mit Geschäftsinitiativen für Arbeitslose, Kleidung, Medikamenten, Lebensmitteln, Spielsachen, der Ausstattung von Kindergärten und Schulen. Auch das UNHCR hat etwa 23 Millionen Dollar in die Hilfe für ukrainische Binnenflüchtlinge gesteckt, doppelt so viel sei nötig, heißt es.

Problem Wahlen

Den größten Teil der Hilfe im ganzen Land leisten in der Ukraine nach wie vor Ehrenamtliche. Neben dem Engagement der Freiwilligen, der Vielen, wächst aber auch der Hass. Im Sommer veröffentlichten die UN eine Untersuchung, nach der die Ablehnung gegen die Flüchtlinge im eigenen Land rasant zunimmt; Autos mit Donezker Nummernschildern werden zerstört, Übersiedler aus Luhansk der Spionage bezichtigt.

Alex Rjabtschin, Abgeordneter der pro-westlichen Vaterlandspartei, der aus Donezk stammt, beteuert, das seien Ausnahmen. Überall liefen große Reintegrationsprogramme, und sie liefen gut. "Das nächste Problem, das wir lösen müssen, sind die Kommunalwahlen. Die Leute wollen in drei Wochen wählen, das dürfen sie als Flüchtlinge nicht. Aber die Bezirke Donezk und Luhansk gehören immer noch zur Ukraine. Also haben die Übersiedler ein Recht dazu!"

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: