Digitalisierung in der Bildung:Lernen nach Zahlen

Digitalisierung in der Bildung: Wie viel Digitalisierung nützt der Bildung - und wo liegen die Risiken?

Wie viel Digitalisierung nützt der Bildung - und wo liegen die Risiken?

  • In den USA sind bereits weite Teile des Bildungswesens digitalisiert, von Schule bis Studium.
  • Deutschland hinkt dem Trend zur Digitalisierung der Bildung noch hinterher, obwohl sich hier viele Möglichkeiten bieten.
  • Jedoch birgt die fortschreitende Unterstützung der schulischen und universitären Lehre auch Risiken.

Von Roland Preuß und Johann Osel

Da ist die Lehrerin, die dank der Lernsoftware bereits vor Unterrichtsbeginn die Hausaufgaben der Schüler kontrollieren kann - und deshalb schon weiß, wer Hilfe braucht. Da sind die Schüler, die an Notebooks ihre Mathe-Lektionen lernen. Am Ende der Stunde prüft der Rechner, wie gut sie den Stoff verstanden haben - und erstellt über Nacht die passenden Aufgaben für den nächsten Tag. Und da ist der Student, dem ein Computer rät, welche Seminare er belegen soll - und der sogar seine Erfolgschancen vorhersagen kann; seitdem der Computer berät, sagt die Hochschule, bestehen deutlich mehr Studierende ihre Kurse.

All dies gibt es bereits, allerdings nur in den USA. "Die digitalen Möglichkeiten werden aber auch unsere Schulen und Hochschulen zwangsläufig verändern", sagt Jörg Dräger. Der Vorstand der Bertelsmann-Stiftung und frühere Hamburger Wissenschaftssenator hat nun zusammen mit dem Bildungsforscher Ralph Müller-Eiselt das Buch "Die digitale Bildungsrevolution" vorgelegt, in der er einen radikalen Wandel des Lernens vorhersagt. So wie viele andere Fachleute.

Wer den Dreisatz nicht versteht, bekommt gezielt zusätzliche Übungen

Beinahe im Wochentakt beraten derzeit Experten auf Tagungen zur digitalen Bildung, Ankündigungen von Politikern aus Bund und Ländern reihen sich aneinander, Thesenpapiere, Initiativen von Stiftungen. Passend zum Semesterbeginn in diesen Wochen. Schon jetzt nutzen viele Schulen und Hochschulen digitale Techniken, es gibt Notebook-Klassen und solche, die ganz auf Papier verzichten. Man recherchiert im Internet, schaut Lernvideos auf Youtube, lädt Lehrmaterial herunter. Es tut sich etwas. Und doch tut sich zu wenig, wenn man dies misst an der Vision der völligen Digitalisierung - und an den Möglichkeiten, die es schon heute gibt.

Denn moderne Lernprogramme bieten viel mehr als Lehrfilmchen und Arbeitsblätter aus dem Netz: Sie zapfen den Erfahrungsschatz anderer Schüler und Studenten an, können den Lernerfolg an Lehrer melden, präsentieren für jedes einzelne Kind individuelle Aufgaben. Wer den Dreisatz noch nicht verstanden hat, der bekommt gezielt zusätzliche Übungen dazu präsentiert, welche, die bei anderen schon funktioniert haben. Wer es begriffen hat, der kann schon das nächste Kapitel anfangen.

Die Digitalisierung verwandelt viele Lebensbereiche: Die Menschen kaufen ihre Kleider lieber im Netz als im Kaufhaus, Mann und Frau finden sich auf Internetportalen, die App von Uber vermittelt Fahrdienste und verdrängt damit die Taxis. In deutschen Schulen und Hochschulen dagegen geht es vergleichsweise gemächlich vorwärts. Nach wie vor steht da der Lehrer oder Professor vorne und hält oft lange Monologe, noch immer verlangen sie allen Zuhörern den gleichen Stoff ab. Intelligente Lernprogramme dagegen können quasi einen Lehrplan für jeden Einzelnen zusammenstellen. Und das massenhaft.

"Dieser Durchschnittsschüler existiert nicht"

Die großen Unterschiede zwischen den Schülern treiben Lehrer und Politiker seit Jahren um. Die Pisa-Studien zeigen, wie stark die Niveaus innerhalb eines Jahrgangs abweichen. Individuelle Förderung lautet deshalb das große Ziel der Bildungspolitik. Kann die Digitalisierung sie ermöglichen? Ja, sagt Dräger. Noch orientierten sich Schulen an Lehrplänen, die für einen Durchschnittsschüler geschrieben seien. "Das Problem: Dieser Durchschnittsschüler existiert nicht. Wenn der gleiche Lehrer alle Schüler im gleichen Tempo mit dem gleichen Material im gleichen Raum mit den gleichen Methoden und dem gleichen Ziel unterrichtet, sind Langeweile bei den einen und Überforderung bei den anderen unvermeidbar."

Die Rolle des Lehrers ändert sich dadurch. Die besten Pädagogen könnten das Standardwissen Tausenden Schülern in Videos vermitteln, der einzelne Lehrer kann mit weiteren Fragen daran anknüpfen und sich um die Probleme einzelner Schüler kümmern. Sicher, die neuen digitalen Möglichkeiten werden nur die Schüler nutzen, die dazu motiviert sind. Doch auch da könnte die Software helfen, indem sie zum Beispiel Elemente von Computerspielen in sich aufnimmt, die bei vielen Jugendlichen so populär sind: Belohnungen zum Beispiel, Aufstieg in höhere Levels, oder selbst gewählte Schwierigkeitsgrade.

Einmal erstellt, lässt sich Lernsoftware millionenfach und günstig einsetzen

Bislang werden Computer nur mit mäßigem Mehrwert in Deutschlands Schulen eingesetzt. Der Erfolg sei kaum spürbar, stellte das Münchner Ifo-Institut dieses Frühjahr fest. Ein Problem ist die oft klägliche Ausstattung. Laut Umfragen sind Lehrer zwar nicht solche Technik-Muffel, wie ihnen oft zugeschrieben wird, sie wünschen sich Fortbildungen. Bei einer Befragung von Schülern, welche Geräte den Unterricht täglich prägen, sagten aber 85 Prozent: der Kopierer. Hört man sich um an Schulen, wird erzählt von völlig veralteten PCs mit Windows 98, oft würden sie gar nicht mehr gestartet, weil die halbe Stunde rum sei, bis sie laufen - wenn sie laufen.

Mit der Vernetzung der Daten, mit individuell reagierenden Programmen könnte sich die Lage ändern - so wie manch andere digitale Angebote erst spät an Schwung gewonnen haben. Es ist wie bei einem einfachen Online-Shop, in dem man zum Beispiel ein Buch von Max Frisch suchen und bestellen kann. All das kann man im Bücherladen auch. Ein modernes Bücherportal dagegen bietet Leseproben an, Rezensionen und blendet auch gleich noch mutmaßlich passende Angebote ein, etwa von Philip Roth, weil andere Käufer von Max-Frisch-Werken auch gerne Bücher des US-Schriftstellers bestellt haben

Das Prinzip vernetzter Bildungssoftware ist das gleiche. Insbesondere den Abgehängten könnte das zugute kommen, denn Digitalisierung macht Bildung billiger: Einmal erstellt, lässt sich ein Programm millionenfach einsetzen. Digitalisierung könnte so auch ein Vorwand zum Sparen sein - und zur Privatisierung, wie Bildungsgewerkschaften warnen. Denn die Software, die so viele Aufgaben übernimmt, wird von Privatunternehmen erstellt.

Digitalisierung der Bildung birgt auch Risiken

An Hochschulen wären die Chancen gleichermaßen enorm. Wenn in diesen Tagen die Vorlesungen beginnen, kann ein Studienanfänger zum Sitznachbarn links und rechts blicken - und damit rechnen, dass einer von ihnen dreien aufgeben wird. So lässt es die Statistik erwarten. Meist brechen Studenten ab, weil sich ihre Erwartungen nicht erfüllen, ihre Motivation schwindet oder sie in Prüfungen scheitern. Das alles spricht für eine falsche Studienwahl. Daher setzen Hochschulen mehr und mehr auf Online-Selbsttests. Diese schätzen Interessen und Talente ein, lassen Aufgaben lösen und empfehlen dann passende Fächer. Manche dieser Programme sind offenbar noch unausgereift. In einer Auswertung erhielt ein Tester, der beim "technischen Interesse" nur zwei von 100 Punkten erzielte, den Rat: Maschinenbau.

Amerikanische Programme wie der "Degree Compass" gehen noch weiter und erfassen die bisher belegten Kurse von Studenten sowie deren Noten und vergleichen sie mit den Erfahrungen aus mehr als einer halben Million Daten. Dann empfehlen sie passende Kurse. Dadurch schafften deutlich mehr Studierende die Kurse, so das Fazit der Austin Peay State University im US-Bundesstaat Tennessee.

An vielen Hochschulen hat man begonnen, virtuelle Kurse aufzubauen und junge Leute dort abzuholen, wo sie ohnehin sind - in der digitalen Welt. Apps für Studienanfänger sind ein Beispiel. Noch aber ist ein Studium in Deutschland vor allem eins: papierlastig. In den USA sind die Hochschulen weiter: Online-Lehrveranstaltungen, sogenannte Moocs, werden hunderttausendfach geklickt - und sind längst mehr als abgefilmte Vorlesungen. Man muss Aufgaben erledigen, Studenten chatten mit dem Dozenten, Hochschüler korrigieren sich gegenseitig. Dies hilft, der wachsenden Zahl von Studenten gerecht zu werden, die immer unterschiedlichere Voraussetzungen mitbringen und immer seltener auf individuelle Unterstützung durch ihre Dozenten hoffen können. Und: Moocs sind kein Schnickschnack, sondern Teil des Studiums, sie werden benotet.

Sollen Rechenmodelle tatsächlich Persönlichkeiten einschätzen?

Computerprogramme, die jede Menge Daten in sich aufsaugen und dann Fähigkeiten und Chancen einschätzen - ist das nun Orientierung oder Ausforschung? Dies ist nur eine der Fragen, die sich mit Blick auf die schöne neue Bildungswelt stellen. Denn der Einzelne kann vom Erfahrungsschatz der vielen nur profitieren, wenn viele Schüler oder Studenten bereit sind, ihre Bildungsdaten zur Verfügung zu stellen. Ein gläserner Schüler und Student könnte die Folge sein, dessen Daten noch jahrzehntelang abrufbar und für Konzerne verwertbar sind. Auch die Hilfe durch den Computer an sich wird nicht überall auf Begeisterung stoßen, trotz manch guter Erfahrungen aus den USA. Will man seinen Bildungsweg tatsächlich von Algorithmen bestimmen lassen? Soll ein Rechner Persönlichkeiten einschätzen, aufgrund von Erfahrungswerten? Was ist mit Menschen, deren Stärken sich noch entwickeln?

Gerade ein Studium ist mehr als die reine Vermittlung von Wissen und Kompetenzen, es ist auch ein Ausprobieren, ein Suchen und Lernen. "Auch Algorithmen können in die Irre führen", räumt auch Dräger ein. Nicht jeder statistische Zusammenhang beschreibt Ursache und Wirkung - es kann auch Zufall am Werk sein. "Dadurch kann sich die Verantwortung verschieben, es ist nicht mehr der Lehrer, der entscheidet, sondern Rechenvorgänge", sagt Beat Döbeli Honegger, Professor an der Pädagogischen Hochschule Schwyz.

Dennoch, die Digitalisierung eröffnet enorme Möglichkeiten in der Bildung. Wenn Deutschland davon profitieren will, wird es seine strengen Vorstellungen vom Umgang mit Bildungsdaten überdenken müssen. Die Pisa-Studien zeigen, wie sich Meinungen ändern können. Schule sei "keine Generalagentur für Menschwerdung, die jetzt auch noch die Aufgabe eines Wissens-TÜV übernimmt" - unter der Devise stand der Deutsche Lehrertag 1999. Damals fing man an, die Bildung zu vermessen. Heute werden Forderungen auf dem Lehrertag gerne mit Daten unterlegt - aus den Pisa-Studien.

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