Wirtschaftsnobelpreis für Angus Deaton:Der Wegbereiter

Angus Deaton hat enormen Einfluss auf die Wirtschaftswissenschaft von heute - und die Politik.

Von Jan Willmroth

Womöglich haben sie in Stockholm gewartet, bis Angus Deaton sein Vermächtnis geschrieben hatte. Zwei Jahre ist "The great Escape" (Die große Flucht) jetzt alt, und gleich im Vorwort verrät sein inzwischen berühmtestes Buch viel über den Menschen hinter dem Werk. Die Menschheitsgeschichte, in der er weit zurückgeht, versteht er auch als Geschichte des Fortschritts. Ungleichheit, schreibt Deaton, sei eine Folge von Fortschritt. "Nicht jeder wird gleichzeitig reich, und nicht jeder bekommt sofort Zugang zu den neuesten lebensrettenden Erfindungen."

Deaton betrachtet Ungleichheit, das Mega-Thema der populärwissenschaftlichen Wirtschaftsforschung von heute, also ganz nüchtern: Sie entsteht von allein, wenn Gesellschaften versuchen, morgen besser zu leben als heute. Am Beispiel der USA zeigt er, wie gut Ungleichheit sein kann: Nie zuvor seien Bildung, Kreativität und Innovation so belohnt worden wie heute. Andererseits dienen ihm die USA als Warnung, als ein Land, in dem vom Wirtschaftswachstum weit überdurchschnittlich die extrem Reichen profitierten und der Lebensstandard der Mehrheit stagniere oder gar sinke. "Plutokratie", die Herrschaft der Reichen, ist Deatons vernichtender Begriff dafür, für "die Bedrohung des Wohlstands".

Angus Deaton wins Nobel Prize for Economics

Angus Deaton

(Foto: dpa)

Drei Wegmarken

Deaton, geboren 1945 im schottischen Edinburgh, lehrt seit 32 Jahren an der US-Elite-Universität Princeton. Seine Forschung seit den frühen 80er Jahren hat Standards verändert. Wenn Ökonomen heute erst Einzeldaten sammeln, um gesamtwirtschaftliche Veränderungen zu erklären, ist das auch Deatons Verdienst.

Die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften hat ihm deshalb jetzt den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften verliehen, besser bekannt als Wirtschaftsnobelpreis, die höchste Auszeichnung für einen Wirtschaftsforscher, dotiert mit etwa 850 000 Euro. Er erhalte den Preis "für seine Analyse des Konsums, der Armut und des Wohlstands", hieß es in der Begründung. Seine Arbeiten hätten geholfen, die Felder der Mikro- wie der Makroökonomik und der Entwicklungsforschung zu verwandeln.

Eine Verwandlung mit drei Wegmarken: Um 1980 entwickelten Deaton und sein Kollege John Muellbauer ein System, um die Nachfrage nach verschiedenen Gütern zu schätzen, das heute zum Standard-Repertoire der Wirtschaftspolitik gehört. In den 90er Jahren warf Deaton die "Hypothese des permanenten Einkommens" von Milton Friedman über den Haufen - wie es seinem Stil entspricht: Er fand anhand individueller Daten eine bessere Hypothese.

Friedman hatte beschrieben, dass es nicht vom aktuellen Einkommen abhänge, wie jemand heute sein Geld ausgibt. Stattdessen würden Menschen berücksichtigen, wie viel sie zuvor verdient haben und in Zukunft verdienen werden. Deaton zeigte Widersprüche dieser Theorie auf und wies nach: Das Einkommen Einzelner schwankt viel stärker als der Durchschnitt aller Einkommen, den Friedman betrachtete. Schaut man zuerst Individuen und dann ganze Volkswirtschaften an, kommen viel präzisere Ergebnisse heraus. Deaton war damit Wegbereiter dessen, was heute "Mikrofundierung" genannt wird - ohne sie kommt die moderne Ökonomik nicht mehr aus.

Schaden durch Entwicklungshilfe

Die dritte Wegmarke macht die Preisverleihung an Deaton angesichts der Flüchtlingskrise besonders aktuell: seine jüngeren Arbeiten zu Entwicklung und Armut. "Die Entscheidung für Deaton dürfte die Hilfs-Industrie nicht freuen. Er ist ein lautstarker Kritiker der Entwicklungshilfe", kommentierte der Harvard-Ökonom Dani Rodrik die Entscheidung bei Twitter. Auch hier tritt Deaton wieder als Wegbereiter auf. Die Erkenntnis, dass Geld allein nicht helfe, hat sich inzwischen durchgesetzt. Wenn heute täglich Politiker in Fernsehen und Radio vortragen, man müsse die Situation in den Herkunftsländern verbessern, dann gehört Deaton zu den Mahnern: Nicht Geld sei das Problem, sondern, wie es eingesetzt werde. Zu oft, schreibt Deaton in seinem jüngsten Werk, richte Entwicklungshilfe mehr Schaden an, als sie nutze. Etwa dann, wenn Entwicklungshilfe autokratische Regierungen auf gefährliche Weise unabhängig von ihren Wählern mache - sie bekämen Geld, ohne darüber Rechenschaft ablegen zu müssen.

Für einen Vertreter seiner Generation ist das ungewöhnlich. Als er anfing, war die Entwicklungsforschung noch ein theoretisches Fach, Forscher untersuchten Länder anhand aggregierter Daten, Menschen wurden nicht gefragt. Jede Menge Geld versickerte in korrupten Systemen, während Millionen hungerten und Ökonomen rätselten. Inzwischen haben sich viele undogmatische, junge Wissenschaftler in der Entwicklungsforschung hervorgetan und das Fach weiterentwickelt, Feldstudien und detaillierte Befragungen gehören heute zum Standard. Die Erforschung von Armut und Entwicklung ist eines der besten Beispiele dafür, wie Erkenntnisse aus anderen Sozialwissenschaften die Wirtschaftsforschung verändert haben. Heute versteht die Menschheit die Lebenswirklichkeit der Ärmsten immer besser; diesen Prozess hat Angus Deaton beschleunigt.

Das Komitee in Stockholm bleibt sich mit der Wahl des Forschers mit schütterem Haar und Schleife um den Hals treu: Er fügt sich ein in die Reihe älterer weißer Herren, die in den USA lehren und den Wirtschaftsnobelpreis erhalten haben. Immerhin ist Deaton gebürtiger Schotte, er hat aber wie die meisten seiner 75 Vorgänger auch den amerikanischen Pass. Unter den Preisträgern ist nur eine Frau.

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