Pflege:Pflegenotstand wird kollektiv verdrängt

Pflege: Der Sozialpädagoge Claus Fussek kritisiert die Zustände in deutschen Pflegeheimen.

Der Sozialpädagoge Claus Fussek kritisiert die Zustände in deutschen Pflegeheimen.

(Foto: Claus Schunk)

In vielen deutschen Pflegeheimen werden die Menschenrechte täglich verletzt. Es ist eine Schande. Und niemand lehnt sich auf.

Ein Gastbeitrag von Claus Fussek

In diesen Wochen beraten die Abgeordneten im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages über den jüngsten Entwurf der Pflegereform. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat Ende September das sogenannte Pflegestärkungsgesetz II ins Parlament gebracht, in dessen Mittelpunkt ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff steht. Was kompliziert klingt, ist im Kern recht einfach: Es geht um die Frage, wer überhaupt als pflegebedürftig gelten kann. Nur dieser Personenkreis ist berechtigt, Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung zu erhalten. Hermann Gröhe will diesen Kreis ausdehnen, so lautet der Plan.

Politiker, Pflegewissenschaftler und Vertreter der Kassen begrüßen den Entwurf. Sicher, es ist ja auch gut, dass zum Beispiel Demenzkranke in Zukunft deutlich leichter Hilfe bekommen können. Allerdings wird ein wesentlicher Aspekt der Pflegereform allenthalben übersehen: Ohne ausreichendes, qualifiziertes und motiviertes Fachpersonal werden die Ideen schlichtweg nicht umsetzbar sein. Die Politik schafft hier einen Anspruch, den kaum jemand einlösen können wird.

Das Problem ist keineswegs neu. Seit vielen Jahrzehnten schon wird auf unzureichende Personalschlüssel in Pflegeheimen hingewiesen. Wenn sich auf Dauer wenige Pfleger um viele Bewohner kümmern müssen, sind Überforderung und Überlastung programmiert. Bereits in der Ausbildung fühlen sich viele angehende Pfleger ausgebeutet und ausgebrannt, viele sehen sich dazu gezwungen, ihr Berufsethos schon zu diesem Zeitpunkt zu verraten, wo die Pflege noch gar nicht ihr Beruf ist. Dass dann kaum jemand Lust zu einem Job in der Pflege hat, kann nicht verwundern.

Eine wünschenswerte und zufriedenstellende Versorgung schwer pflegebedürftiger Menschen kann nicht mit minimaler personeller Besetzung durchgeführt werden. Dass man davon nichts wisse, kann kein Politiker und kein Pflegewissenschaftler ernsthaft behaupten. Es gibt in diesem Punkt kein Erkenntnisproblem, es gibt ein Handlungsproblem. Jeder, der es will, kann sich täglich unangemeldet vor Ort von den zum Teil unverantwortlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in zahlreichen Pflegeheimen persönlich überzeugen. Ich bin immer wieder fassungslos, dass so viele Menschen, die "in der Pflege" Verantwortung übernommen haben, darüber Bescheid wissen, aber zugleich wegschauen, schweigen und letzten Endes sogar mitmachen.

Es müsste so etwas wie Amnesty International für Patienten geben

Machen wir uns nichts vor: Wir haben uns längst an die unerträglichen Zustände in zahlreichen Altenpflegeheimen gewöhnt, an die Begriffe "Pflegenotstand" und "Personalmangel". Vielleicht muss man es so deutlich sagen: In vielen Pflegeheimen werden die Menschenrechte täglich verletzt, die vom Grundgesetz als unantastbar hochgehaltene Menschenwürde, sie wird in vielen Stationen sehr wohl angetastet. Nicht durch die einzelnen Pfleger zumeist, sondern durch ein System, das es zulässt, dass Alte auf einen Toilettengang stundenlang warten müssen und aus Scham kaum noch trinken wollen.

Nach Angaben des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen haben im Jahr 2013 schier unglaubliche 77 Prozent der Heimbewohner eine Inkontinenzversorgung erhalten, zehn Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Viele Einrichtungen sind inzwischen weitgehend rechtsfreie Räume geworden. Das gesellschaftspolitische Interesse an diesen würdelosen Zuständen hält sich in Grenzen.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Mit schlechter Pflege, ich nenne das "Pflege in die Betten", wird in Deutschland viel Geld verdient. Je höher ein Pflegebedürftiger eingestuft wird, desto mehr zahlt die Kasse. Kaum eine Einrichtung hat daher ein Interesse an dem, was in der Pflegewissenschaft gemeinhin eine aktivierende Pflege genannt wird. Damit ist der Versuch gemeint, Alten und Kranken ihre Selbständigkeit so weit wie möglich zurückzugeben. Je schwächer die Bewohner werden, desto rentabler sind sie für das System.

Der "Aufstand der Anständigen" gegen diese unhaltbaren Zustände blieb bislang aus. Scham und Empörung halten sich in Grenzen. In kaum erträglicher Weise schweigen sich Kirchen und Menschenrechtsinitiativen in dieser Frage aus. Das Schicksal alter und kranker, mithin besonders schutzbedürftiger und ausgelieferter Menschen interessiert kaum. Warum auch, könnte der Zyniker nun fragen, man braucht sie ja auch nicht mehr. Die Pflege ist kein Thema für Wahlen. Und von den Betroffenen und ihren Angehörigen geht auch keine Gefahr für die öffentliche und politische Ordnung aus, ihr Konfliktpotenzial ist denkbar gering. Würden sie in einen Streik eintreten, schadeten sie damit zuvorderst sich selbst.

In der öffentlichen Diskussion des Pflegemarktes wird denn auch nicht über persönliche Schicksale gesprochen, über verzweifelte und zum Teil traumatisierte Menschen. Stattdessen verhandelt man recht emotions- und leidenschaftslos über die Finanzierbarkeit von "Pflegefällen" als Kostenfaktoren. Das wahre Ausmaß der Pflegekatastrophe wird stattdessen schöngeredet, geleugnet und kollektiv verdrängt. Was muss eigentlich noch passieren?

Selbstverständlich geht es auch anders. Es gibt einige wenige "Leuchttürme" in Deutschland, es gibt zahlreiche verantwortungsbewusste, engagierte Heimleitungen und selbstbewusste, motivierte, empathische und mutige Pflegekräfte. Das heißt aber auch: Es gibt keine Ausreden. Menschenwürdige Pflege ist mach- und bezahlbar. Wir müssen endlich, alle miteinander, die Verantwortung dafür übernehmen. Wir sollten so etwas wie eine Amnesty-International-Initiative für Pflegebedürftige organisieren. Gewiss, es gibt derzeit viele wichtige Themen in der Politik. Doch wir können es uns nicht leisten, die Pflege zu vernachlässigen. Sie betrifft die meisten von uns, statistisch gesehen, früher oder später selbst. Das gilt im Übrigen selbst für Pflegemanager und Gesundheitspolitiker.

Die Pflegekräfte indes müssen sich die Frage gefallen lassen, auf welcher Seite sie eigentlich stehen. Übernehmen sie Verantwortung und solidarisieren sich mit den ihnen Anvertrauten? Oder folgen sie den Vorgaben der Heimträger? Meine Bitte wäre: Zeigen Sie Zivilcourage und dokumentieren Sie in der Patientenakte auch nur das, was Sie tatsächlich leisten können! Viel zu oft werden in Pflegeheimen Leistungen abgerechnet, die niemals erbracht worden sind, weil schlicht das Personal dafür fehlt. Wenn sich die Dokumentationspraxis ändert, hätten die Verantwortlichen die strukturellen Probleme endlich schwarz auf weiß. Dann wäre offenbar, dass die Selbstverwaltung von Heimträgern und Kassen versagt hat.

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