Kastenwesen:Indiens alte Ordnung bröckelt

Kastenwesen: Bewohner von Sunpedh tragen die Leichen der beiden verbrannten Kinder, blockieren eine Schnellstraße und fordern die Verhaftung der Brandstifter.

Bewohner von Sunpedh tragen die Leichen der beiden verbrannten Kinder, blockieren eine Schnellstraße und fordern die Verhaftung der Brandstifter.

(Foto: Vijay Kumar/AP)

Zwei Kinder verbrennen bei lebendigem Leib. Eine Fehde zwischen verfeindeten Kasten? In Indien stellt die untere Schicht die Privilegien der oberen infrage.

Von Arne Perras, Singapur

Die Kinder schliefen, sie ahnten nichts. Der Junge hieß Vaibhav und war zweieinhalb, seine Schwester Divya war erst elf Monate alt. Beide sind nun tot, grausam ermordet im Dorf Sunpedh, nicht weit von der indischen Hauptstadt Delhi. Unbekannte haben das Haus der Familie im Schutz der Dunkelheit angezündet, es gab für die kleinen Geschwister kein Entkommen. Der Vater versuchte noch, sie zu retten. Er hat es nicht geschafft.

Wahlkampf heizt die Stimmung an

Der Gewaltexzess im Bundesstaat Haryana wühlt Indien auf, nicht nur, weil zwei Kleinkinder auf grausame Weise im Feuer den Tod fanden. Der mutmaßliche doppelte Kindermord wirft auch ein Schlaglicht auf wachsende soziale Spannungen, vor denen Analysten warnen. Der Streit um die Dominanz einzelner Kasten und die Unterdrückung der unteren Schichten verschärft sich.

Hinzu kommt, dass der große indische Bundesstaat Bihar mitten in einer Wahl steckt, die sich über mehrere Wochen hinzieht. Das verführt die Parteien dazu, die Schuld für jeden Gewaltausbruch nahezu reflexartig dem politischen Gegner zuzuschieben. So dominieren nun also Berichte über die verbrannten Kinder die Schlagzeilen. In Sunpedh kocht die Wut so hoch, dass die Polizei schon 100 Einsatzkräfte auf den Straßen stationiert hat. Sie patrouillieren, um weitere Gewaltausbrüche zu verhindern. Der stellvertretende Polizeichef von Haryana sagt, die Lage sei angespannt, aber unter Kontrolle.

Das Kastensystem galt als unantastbar

Ermittler fahnden nach den Tätern, es hat Festnahmen gegeben, aber noch sind die Hintergründe nicht umfassend geklärt. Indiens Medien berichten unterdessen breit über die Vorwürfe des überlebenden Vaters, Jitender Kumar. Er gehört zur Gruppe der Dalits, die früher "die Unberührbaren" genannt wurden. Kumar erzählt, wie er nachts durch beißenden Benzingeruch im Haus erwachte. "Ich versuchte, meine Frau zu wecken, aber da brannte es schon überall."

Der Vater beschuldigt Angehörige der Rajputen, einer höheren indischen Kaste, den Brandanschlag gegen seine Familie verübt zu haben. Womöglich handelt es sich um einen Racheakt. Denn im Ort Sunpedh schwelt schon seit Längerem ein Konflikt zwischen den Kasten, 2014 forderte er schon drei Tote. In der traditionellen Ordnung stehen die Rajputen als Nachkommen früherer Krieger weit über den Dalits. Unter den Angehörigen der höheren Kasten finden sich viele Landbesitzer, während die Dalits traditionell die harte und schmutzige Arbeit verrichten.

So zumindest ist es früher immer gewesen, doch nun bröckelt die soziale Ordnung. Der Intellektuelle Chandra Bhan Prasad, der selbst ein Dalit ist, glaubt, dass dies erst der Anfang eines großen, immer wieder von Gewalt begleiteten sozialen Umbruchs ist. Die Gewalt in Haryana sollte man keinesfalls isoliert betrachten, mahnt er. Die Wurzeln für solche Gewaltexzesse sieht Prasad in einem neuen Selbstbewusstsein der unteren Klassen einerseits - und der wachsenden Angst der historisch privilegierten Schichten andererseits. "Die Dalits kuschen nicht mehr vor ihren Unterdrückern, sie fordern die Rajputen heraus", sagt Prasad.

Dominierende Kasten fürchten bröckelnde Ordnung

Ähnliche Konfliktmuster seien vielerorts in Indien zu beobachten, weil sich das Land von einer starren Kastengesellschaft zu einer flexibleren Klassengesellschaft entwickle. Große soziale Umbrüche liefen in der Geschichte niemals gewaltfrei ab, sagt Prasad. Und das könne man nun auch in Indien sehen, wo die Dalits den sozialen Status quo infrage stellen.

"Früher reichte den Rajputen ein Stock, um einen Streit mit den Dalits zu ihren Gunsten zu beenden, mehr brauchten sie dafür nicht", sagt Prasad. Die soziale Ordnung galt als unantastbar, da hätte von ganz unten kaum einer ernsthaft aufgemuckt. Aber heute sei das anders, weil junge Dalits sich nicht mehr unterordnen wollen, weil sie neue Freiheiten spüren und die Chance sehen aufzusteigen. Viele sind ökonomisch erfolgreich und machen etwas aus sich. Doch genau das ist es, wovor sich Angehörige der traditionell dominierenden Kasten in einer bröckelnden feudalen Ordnung fürchten. Sie wollen ihre Privilegien und ihre gefühlte Überlegenheit, die sie jahrhundertelang gepflegt haben, nicht verlieren.

Kinder mögliche Opfer von Kastenfehden

So entzünden sich in den Dörfern Konflikte, die sich manchmal gefährlich hochschaukeln. Vieles deutet darauf hin, dass die beiden ermordeten Kleinkinder letztlich Opfer einer solchen Fehde zwischen den Kasten geworden sind. Der indische Staat fördert Dalits und andere benachteiligte Schichten systematisch mit Quoten für Jobs und Ausbildungsplätze.

Aber das ändert nichts daran, dass diese Gruppen auf dem Land oftmals diskriminiert bleiben. Prasad erzählt die Geschichte von einem jungen, stolzen Dalit, der bei seiner Hochzeit auf einem Pferd reiten wollte. "Kommt ein Dalit auf einem Esel daher, wird ihm nichts geschehen", sagt Prasad. Ein Pferd aber steht ihm in den Augen der höheren Kasten nicht zu, es ist das Symbol der herrschenden Klasse. Der Dalit ritt trotzdem auf einem Pferd zu seiner Hochzeit. Er bekam einen Helm und eine Polizeieskorte, um sich vor wütenden Steinwerfern zu schützen.

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