Büchner-Preis:Amore in Darmstadt

Rainald Goetz erhält Georg-Büchner-Preis 2015

"Das Ich ist aus mir hinaus ausgewandert": Rainald Goetz, ergraut, geehrt.

(Foto: Boris Roessler/dpa)

Einst verletzte er sich auf der Bühne mit einer Rasierklinge. Heute gibt sich Autor Rainald Goetz bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises als hellwacher Chronist der Gegenwart. Und trällert zum Abschied ein Lied.

Von Volker Breidecker

Halleluja, Rainald Goetz! Büchnerpreis für Rainald Goetz! Selten wurde ein von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung auserwählter Träger des wichtigsten deutschsprachigen Literaturpreises so einhellig gefeiert wie dieser. Nur dem Preisträger waren keine Kommentare zu entlocken.

Alle Erwartungen richteten sich deshalb auf die Preisverleihung am Samstag im Darmstädter Staatstheater. Würde Goetz überhaupt erscheinen? Und würde er eine fertig ausgearbeitete Rede halten, wo dergleichen doch seinem sonst reklamierten Unmittelbarkeitspathos widerspricht? Tatsächlich lag, anders als üblich, der Text seiner Rede auch bei Beginn der Veranstaltung noch nicht vor, wohingegen Goetz selbst immerhin schon gesehen wurde.

Die fertige Rede hatte er dann in der Tasche. Er erstürmte, fahrig wie eh und je, mit dem Manuskript und seinem unterwegs wie im Fluge übergezogenen Jackett die Bühne, auf der soeben Jürgen Kaube, der FAZ-Feuilleton-Herausgeber, seine Laudatio beendet hatte. Bei seinem ersten öffentlichen Aufritt anno 1983 beim Klagenfurter Literaturwettbewerb hatte sich Goetz mit einer Rasierklinge die Stirn aufgeschlitzt, dass das Blut über Gesicht und Manuskript lief. Aber wer erwartet hatte, das einstige Enfant terrible des Literaturbetriebs werde sich nun auf dem Höhepunkt seiner Karriere doch noch die eine oder andere Provokation gegenüber der ehrwürdigen Akademie einfallen lassen, wurde enttäuscht.

Ist Rainald Goetz unterwegs ins Greisenalter?

Zwar eröffnete er seine Rede mit einem emphatischen Anruf an die "Jugend" und mithin auch an Georg Büchner als deren Patron und Antipoden aller staatlichen wie akademischen Institutionen. Doch ließ Goetz, mittlerweile 61 Jahre alt und ergraut, deutlich werden, dass alles, was an "Wahn und Irresein, Klarsicht, Freisein, Brutalität" das unbestrittene Privileg der Jugend sei, für seine eigene Altersklasse passé sei. Vorbei auch der Hass und die Revolution, vorbei die unbeschwerte Heiterkeit und Radikalität jugendlicher Revolten.

Ist Rainald Goetz also im Juste Milieu angekommen und unterwegs ins Greisenalter? Mitnichten. Nur verzichtet er auf das, was dem Älteren nicht mehr gebührt, ohne die Stigmata und Melancholie des alternden Künstlers zu verleugnen. Vor dem Eingang zur Akademie mit all den Toten- und Ehrentafeln steht er wie vor dem Grab seiner Intentionen. Außer dem Preisgeld bedeutet die Ehrung ja auch die Kanonisierung und ein vom denkenden, fühlenden, schreibenden Subjekt für immer abgetrenntes Werk.

Als wache und kritische Beobachterin ihrer Zeit wurde in Darmstadt für ihre einzigartigen Reportagen auch Gabriele Göttle geehrt. Sie erhielt den Johann-Heinrich-Merck-Preis, gestiftet von dem gleichnamigen Pharma-Konzern. In ihrer Dankesrede, die wegen einer Erkrankung der Preisträgerin allerdings nur verlesen wurde, lies Göttle erklären, dass sie das Preisgeld an eine pharmakritische Organisation spenden werde.

Punker, Raver, DJ

Rainald Goetz wiederum sprach selbst, konzentriert und immer noch mit der Verve des einstigen Punkers, Ravers und DJs. Zu den weniger erbaulichen Begleiterscheinungen des Älterwerdens beispielsweise: "Selten wird es gesagt, in welchem Ausmaß die Produktion von Kunst, die ja ein Element des Ekstatischen braucht, durch das Altern beschämt, ruiniert, verunmöglicht wird. Das Leben zerstört die innere Stimme, der Maßstab, mit dem ich mich früher nur öffnen musste, um zu erfahren, was soll, kann, was darf nicht, ist verschwunden. Es gibt gar kein Ich mehr. In der Literatur, wo das Ich der Schrift alles ist, sind die Folgen katastrophal. Das Ich ist aus mir hinaus ausgewandert und in die Welt hinein, dort steht es mir fremd gegenüber zum Verwechseln ähnlich mit den vielen anderen da draußen." Und unter diesen vielen sind eben nicht nur die Guten: "Das Schreiben altert nicht gut, man sieht es an sich selbst, sieht es an vielen Beispielen anderer."

Doch da ist und bleibt Rainald Goetz, der approbierte Arzt, ein präziser Beobachter, liegt darin seine zuweilen zornige Geistesgegenwart. Er ist ein mit hoher Musikalität versehener Lauschender.

Was er tagaus tagein so vernimmt und notiert - in seinen Büchern registriert er vor allem die Stimmen und Töne der Medien -, empfindet er als zumeist eher unerquicklich. Das macht ihn umso reizbarer gegenüber allem "Gelabere", vor allem, wenn es sich politisch gibt, und bloßes "Meinen" mit den Weihen des Schriftstellers und Künstlers zu heiligen sucht. Ihm ist die gegenwärtige "Freude an der Rückkehr des politischen Schriftstellers" schon wieder suspekt, denn er ist sich der vielfach gebrochenen Erfahrungen und schließlich der zähen Langsamkeit der Prozesse bewusst, deren jede Kunst bedarf.

Ein Chronist der Gegenwart und ihrer Kultur

Und prompt meldet sich Goetz, der Orator und Citoyen zurück: "Wenn man sich anschaut, wie Autoren, die politische Bücher geschrieben haben, jetzt zu den großen Themen und Weltkrisen öffentlich die parapolitischen Trivialitäten, die zur Zeit überall erstehen, allen Ernstes als eigene Sätze, die etwas Selbsterdachtes vertreten sollen, in Interviews daherreden und sich dabei sichtlich wohlfühlen, muss man sagen, Auftrag der Sprache, der Schrift, der Literatur verfehlt, Sprechakt eitel, unpolitische Aktion." So konform mit den Aufgaben einer Akademie für "Sprache und Dichtung" wurde das selten gesagt.

Da ist es nur logisch, dass Goetz, der sich laut Preisurkunde "mit einzigartiger Intensität zum Chronisten der Gegenwart und ihrer Kultur" gemacht hat und seinen jüngsten Roman "Johann Holtrop" im Bankenmilieu spielen lässt, das enge Verhältnis von Literatur und Journalismus zur Sprache bringt. Beide können einander zwar befruchten und sogar verehren, so Goetz, doch bleiben sie Konkurrenten um das Wort, die Schrift, den Text - die Literatur auch aus einer "Außenkritik" am Journalismus, die dieser selbst "nicht leisten kann, aber braucht".

Am Ende seiner Rede sang Rainald Goetz dann ein Lied der Wiener Indie-Rock-Band Wanda: "Wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag für Amore, Amore!"

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