Flüchtlingscamp in Nordfrankreich:Gericht ordnet Verbesserungen im "Dschungel" von Calais an

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  • Ein Gericht im nordfranzösischen Lille hat eine Verbesserung der Bedingungen im Flüchtlingslager von Calais angeordnet.
  • Innerhalb von acht Tagen müssen die Behörden mehr Trinkwasseranschlüsse schaffen, mehr Toiletten bauen und endlich den Müll im Lager entsorgen.
  • Seit dem Sommer hat sich die Zahl der Bewohner des "new jungle" vor dem Eurotunnel in Calais von 3000 auf 6000 verdoppelt.

Von Christian Wernicke, Paris

Vor dem Richter stand kein Geringerer als Vater Staat, und die Anklage im Prozess vor dem Verwaltungsgericht im nordfranzösischen Lille klang finster: Wegen "dauerhafter Verletzung fundamentaler Freiheiten" und unterlassener Hilfeleistung für 6000 bei Calais gestrandete Flüchtlinge hatten mehrere Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen die französische Regierung verklagt.

Angesehene Gruppen wie "Médicins du Monde" und "Secours catholique" (Caritas) verlangten, die bei Wind und Wetter in einer notdürftigen Zeltstadt - dem sogenannten Neuen Dschungel - lebenden Migranten in menschenwürdige Unterkünfte zu bringen. Andernfalls, so die Kritiker, drohten Epidemien und Tote.

Das Lager, so entschied das Gericht am Montag in erster Instanz, darf zwar bleiben. Aber die Regierung wurde wenigstens geohrfeigt: Innerhalb von acht Tagen müssen die Behörden mehr Trinkwasseranschlüsse schaffen, mehr Toiletten bauen und endlich den Müll im Lager entsorgen.

Calais
:Hauptstadt der Flüchtlingskrise

Hunderte Menschen versuchen jeden Tag, von Calais aus nach Großbritannien zu gelangen. Die Stadt hat ihren Hafen in eine Festung verwandelt, die örtlichen Politiker fühlen sich von Europa im Stich gelassen.

Von Paul Munzinger

Durch den Eurotunnel nach Großbritannien

Die meisten Flüchtlinge bei Calais wollen durch den Eurotunnel nach England. Sie versuchen, mit Hilfe von Schlepperbanden oder auf eigene Faust auf einen der zahlreichen Lkws zu gelangen, die per Zug nach Großbritannien transportiert werden. Die Behörden hatten den Zug- und Fährbetrieb wiederholt einstellen müssen, weil bis zu 2000 Flüchtlinge gleichzeitig in den abgesperrten Freihafen vordrangen.

Inzwischen hat Frankreich den Polizeischutz verstärkt: Innenminister Bernard Cazeneuve sagte am Wochenende stolz, in der letzten Oktoberwoche habe es "kein einziger Migrant" auf englischen Boden geschafft. Großbritanniens Regierung lehnt eine Aufnahme auch nur eines Teils der Flüchtlinge strikt ab, beteiligte sich zuletzt jedoch an den Kosten der verschärften Sicherheitsmaßnahmen in Calais.

Seit dem Sommer hat sich die Zahl der Bewohner des "new jungle" von 3000 auf 6000 verdoppelt. Hilfsorganisationen beklagen seit Monaten "unmenschliche Zustände" im Lager. So gab es bisher Notlager aus Zelten, Brettern und Pappen und nur drei Stellen für frisches Wasser. Ebenso fehlt es an Duschen, Toiletten und Müllsammel-Punkten, sodass der "Dschungel" an vielen Stellen einer Kloake gleicht. Mangelhaft ist auch die Versorgung mit Lebensmitteln: Die Behörden verteilen bisher nur einmal am Tag 2500 Essensrationen. Etliche Flüchtlinge seien verzweifelt, traumatisiert und akut suizidgefährdet.

Paris ändert seinen Kurs

Die sozialistische Regierung hatte die Zustände bei Calais lange zu ignorieren versucht. Erst gewaltsame Ausschreitungen sowie der Tod von mindestens 15 Flüchtlingen am und im Eurotunnel zwangen Paris zu reagieren. Premierminister Manuel Valls versprach den Bau eines soliden Zeltlagers mit 1500 Plätzen bis Januar, Innenminister Cazeneuve kündigte im Oktober zudem an, für 200 Frauen und Kinder werde kurzfristig ein Aufnahmezentrum errichtet. Noch Ende voriger Woche kam zwar ein Gutachten des Gesundheitsministeriums zu dem Ergebnis, die Lage im "Neuen Dschungel" sei trotz hygienischer Mängel "unter Kontrolle". Doch Paris ändert seinen Kurs: Vergangenen Freitag wurden 400 Flüchtlinge in Unterkünfte im ganzen Land verteilt.

Die Lage in Calais wirft ein Schlaglicht auf die Asylpolitik Frankreichs. Bisher blieb Deutschlands westliches Nachbarland weitgehend unberührt vom aktuellen Flüchtlingsstrom: In diesem Jahr rechnet die Regierung mit etwas mehr als 60 000 Asylbewerbern, das sind ungefähr so viele wie 2014. Hinzu kommen 30 000 Menschen, die Frankreich im Rahmen einer EU-weiten Umverteilung aus Italien und Griechenland aufnehmen will.

Im September hatte Präsident François Hollande angekündigt, seine Nation werde aus Solidarität 1000 Flüchtlinge von Deutschland übernehmen. Nach einer einwöchigen Werbeaktion in München konnte die nationale Asylbehörde dann 526 Migranten per Bus nach Frankreich bringen. Von ihnen gingen 51 zurück. Die übrigen 475 Menschen, die in Notunterkünften untergebracht wurden, heißen laut Le Monde im Sprachgebrauch der Beamten nun "les Merkels".

© SZ vom 03.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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