Großbritannien und die EU:Warum Briten sich nicht europäisch fühlen

London to Brighton veteran car run

Großbritannien und seine Eigenheiten: Szene eines Oldtimer-Rennens in London im November 2015.

(Foto: dpa)

Europa? Das sind für viele Briten nur sonnige Strände oder romantische Städtetrips. Über ein Land, dessen Premier die EU als "Mittel zum Zweck" bezeichnet.

Gastbeitrag von Joe Miller

Irgendwann kommt sie immer, diese eine Frage. Ob ich mich mit deutschen Kollegen unterhalte, mit Freunden, mit meinem Friseur - zuverlässig werde ich gefragt, was ich von der Reaktion Großbritanniens auf die Flüchtlingskrise halte. Wie kann es sein, heißt es dann halb höflich, halb vorwurfsvoll, dass Premier David Cameron über mehrere Jahre weniger syrische Flüchtlinge aufnehmen will, als in Bayern an einem einzigen Wochenende eintreffen?

Warum, formulierte es einer, bevorzugen die Briten ihre "splendid isolation", ihre großartige Abgeschiedenheit auf ihrer Insel? Warum geben sie sich gegenüber den Angelegenheiten anderer europäischer Staaten betont gleichgültig, während sie stets mit einem Brexit, also einem EU-Austritt kokettieren? Kurz gesagt lautete die Frage: Warum seid ihr Briten nicht europäischer?

Meist murmele ich eine Entschuldigung und führe dann an, dass viele Briten die aktuelle Flüchtlingspolitik tatsächlich kritisch sehen. Eine Umfrage ergab kürzlich, dass etwa die Hälfte der Befragten denkt, ihre Regierung solle sich in der Flüchtlingskrise stärker engagieren. Zehntausende Demonstranten liefen im September durch London und protestierten gegen die in ihren Augen gleichgültige Haltung des Premiers gegenüber dem Thema. Hinzukommt, dass eine ansehnliche (jedoch langsam sinkende) Zahl von Bürgern Großbritannien auch künftig in der EU sehen will.

Europäisch fühlt sich keiner

Aber - und das ist entscheidend - ich kann nicht behaupten, dass sich viele meiner Landsleute in irgendeiner Weise "europäisch" fühlen. Mir fällt kein Anlass ein, bei denen sich die Herzen der Briten angesichts einer blau-gelben Flagge erwärmen. Abgesehen vielleicht vom Golfturnier Ryder Cup.

Dieser Graben wird vermutlich durch nichts so gut illustriert wie durch die Art, wie viele Briten den Begriff Europa verwenden. Europa - das steht oft für sonnige Strände und romantische Städtetrips, für Länder, in denen man sich auf beide Wangen küsst und 'Mittagspause' macht. Kurz, wenn Briten Europa sagen, dann meinen sie oft genug nur Kontinentaleuropa. Obwohl nur etwas mehr als 30 Kilometer Ärmelkanal zwischen den beiden Landmassen liegen, scheint der psychologische Unterschied gewaltig.

"Wir haben den Charakter einer Inselnation", sagte Premier Cameron in einer Rede zum Verhältnis zur EU im Jahr 2013. Deshalb, sagte er, sei die Beziehung der Briten zu Europa weniger emotional als vielmehr pragmatisch. "Für uns ist die EU Mittel zum Zweck." Das ist schwerlich der europäische Geist, den Kanzlerin Angela Merkel oder Frankreichs Präsident François Hollande immer wieder beschwören.

So denkt nicht nur David Cameron. Immer wieder taucht Euroskeptizismus in den Programmen linker wie konservativer britischer Parteien auf. Die EU-Mitgliedschaft war nie eine fundamentale Grundüberzeugung, weder im Unter-, noch im Oberhaus des Parlaments. Sogar die Kampagne "Britain Stronger in Europe", die von Vertretern aller großen Parteien außer der Scottish National Party (SNP) unterstützt wird, kann sich nicht zu einem romantischen Europa-Bild durchringen. Im Gegenteil: Ihr Vorsitzender, der ehemalige Marks-and-Spencer-Chef Lord Rose, appellierte in seiner ersten Rede an die Wähler, eine nüchterne Kalkulation anzustellen, was britischen Bürgern und Großbritannien am meisten nütze. Keine Rede war von europäischen Idealen wie Einheit, Solidarität und Harmonie, es gab keine erhebende Wiedergabe von Beethovens "Ode an die Freude".

Emotionale Aufrufe spielen in der britischen Politik nur selten eine Rolle, doch die seltsam lauwarme Attitüde der Pro-Europa-Kampagne spiegelt auch den fehlenden Einfluss der Europäischen Union im Land wider. Die EU ist schlicht kein Teil der Gesellschaft.

Die EU spielt einfach keine Rolle

Griechische EU-Unterstützer können auf Straßen, Schulen und Krankenhäuser verweisen, die mit EU-Mitteln erbaut wurden. Sogar Kinder in Berlin-Neukölln toben auf Spielplätzen, die mit Geld aus Brüssel renoviert wurden - das verkünden große Schilder. Nichts dergleichen existiert in Großbritannien. Zwar dürften einige Brüsseler Mittel in die britische Infrastruktur fließen, es wird jedoch nur selten gewürdigt. Europäische Gesetze, die Arbeitern nützen oder Menschenrechte schützen, werden ein ums andere Mal als Entscheidung britischer Gerichte verstanden.

All das könnte ein Erklärungsansatz sein in der Frage, warum sich Großbritannien nicht stärker in der Flüchtlingskrise engagiert. Die meisten Briten dürften zustimmen, dass die Lage vieler Schutzsuchender entsetzlich ist. Und doch gilt es als "europäisches" Problem. Als Problem, das, wie die EU, pragmatisch betrachtet werden muss.

Nach der Ankündigung, über einen Zeitraum von mehreren Jahren etwa 20 000 Menschen aus Syrien aufzunehmen, betonte Premier Cameron, sich verstärkt um die Gründe des Flüchtlingsstroms kümmern zu wollen. Wieder und wieder verwies er auf die britischen Bemühungen, den Menschen schon im Konfliktgebiet zu helfen.

Diese nüchterne Herangehensweise könnte auch erklären, warum die Argumente britischer Einwanderungsgegner weniger fremdenfeindlich, sondern vielmehr isolationistisch sind. In vielen Teilen Europas schürten zahlreiche rechtsgerichtete Parteien zuletzt islamfeindliche und rassistische Ansichten. In Großbritannien taten das vergleichsweise wenige Einwanderungsgegner.

Die Ukip (UK Independence Party) betont häufig, dass sie Einwanderer nicht aus religiösen oder rassistischen Gründen ablehnt. Auch wenn einzelne Parteimitglieder sich teilweise so äußerten. Stattdessen führt die Partei wirtschaftliche Gründe gegen Einwanderung an und warnt vor zu hohem Druck auf die Staatsfinanzen. Man will sich nicht als Ideologen präsentieren, sondern als Pragmatiker.

Tatsächlich wird in der britischen Politik der Begriff "ideologische Mission" meistens abwertend genutzt - um eine Position als eben nicht faktenbasiert, als nicht abgewogen zu bezeichnen. Ex-Premier Tony Blair distanzierte sich einst von dem Begriff und betonte, seine Labour-Partei sei "interessiert an allem, was funktioniert".

Vielleicht lernt Großbritannien ein emotionales Europa-Bild künftig kennen und lieben. Ein paar Indizen für einen Wandel gibt es. Die Labour-Partei wählte zuletzt den entschieden ideologischen, linksgerichteten Jeremy Corbyn zu ihrem Vorsitzenden. Auch die Scottish National Party positioniert sich als ideologisch und streitlustig. Mittelfristig glaube ich aber nicht daran, dass wir Briten uns bald "europäisch" fühlen werden.

Übersetzung: Jakob Schulz

Joe Miller arbeitet für die britische Rundfunkanstalt BBC. Als Stipendiat des Internationalen Journalisten-Programms (IJP) ist er für mehrere Monate in Deutschland und arbeitet im Wirtschaftsressort der Süddeutschen Zeitung mit.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: