Biologie:Der Krebs, der aus der Kälte kam

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Wie viele Millionen Marmorkrebse es derzeit gibt, weiß niemand. Sicher ist, dass sie alle genetisch identische Kopien des selben Muttertiers sind. (Foto: Chris Lukhaup/DKFZ)

Der Marmorkrebs ist wahrscheinlich vor etwa 30 Jahren durch einen Zufall entstanden. Nicht die einzige Anomalie: Es gibt nur Weibchen, und sie pflanzen sich ohne Sex fort.

Von Hanno Charisius

Neue Tierarten entstehen normalerweise sehr langsam. Von Generation zu Generation entfernen sich Untergruppen einer Art genetisch immer weiter voneinander, bis sie sich irgendwann nicht mehr paaren können - oder wollen. Der Marmorkrebs allerdings wandelte sich ganz plötzlich, praktisch von einem Tag auf den anderen zu einer eigenen Art. Wahrscheinlich geschah es vor etwa 30 Jahren, vermutlich durch einen Kälteschock. In Fachjournal Biology Open beschreiben Biologen um Frank Lyko vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, wie es zu der abrupten Entwicklung kommen konnte.

Alle Tiere dieser Art sind weiblich. Sie brauchen keine Männchen, um sich fortzupflanzen

Im Jahr 1997 fiel einem deutschen Aquaristen zum ersten Mal auf, dass sich der Krebs in seinem Wasserbecken auch ohne einen Artgenossen vermehrte. Dieses Phänomen wird als Parthenogenese bezeichnet, die eingeschlechtliche Fortpflanzung. Viele Insekten sind dazu in der Lage, aber auch Schnecken, Echsen, wenige Schlangenarten, vier Haiarten und sogar manche Vögel. Wie genetische Untersuchungen des Marmorkrebses gezeigt haben, sind sämtliche Tiere weiblich, und sie besitzen alle vollkommen identische Erbanlagen. Als invasive Art lebt der Marmorkrebs inzwischen auf drei Kontinenten. Er bevölkert deutsche Badeseen und frisst Reisfelder auf Madagaskar leer. Jedes Exemplar ist ein Klon des einen Muttertiers, das vor einigen Jahrzehnten offenbar durch einen biologischen Zufall aus dem Everglades-Sumpfkrebs hervorging.

Lyko und Kollegen spekulieren, dass sich die Eizellen eines Weibchens durch einen heftigen Kälteeinbruch nicht richtig teilten. Zumindest eine Zelle behielt die beiden Chromosomensätze des Muttertiers statt nur einen, wie in Geschlechtszellen vorgesehen. Als diese Zelle befruchtet wurde entstand ein Krebs mit dreifachem Chromosomensatz. Das ist kein ungewöhnliches Ereignis in der Natur, doch normalerweise sind diese Tiere steril und können keine Nachkommen zeugen. "Beim Marmorkrebs hat sich aber etwas im Erbgut ereignet, wodurch die Tiere die Fähigkeit erlangt haben, sich durch Jungfernzeugung fortzupflanzen", sagt Lyko.

Damit stehe fest, der Marmorkrebs "ist eine eigene Art", sagt Lyko. Unterschiede zwischen den einzelnen Tieren würden ausschließlich durch epigenetische Veränderungen des Erbguts entstehen, die dafür sorgen, dass Gene an- oder abgeschaltet werden. So kann der Organismus auf Umweltbedingungen reagieren. Weil auch die Krankheit Krebs oft epigenetische Ursachen hat, sollte der Marmorkrebs ein interessantes Versuchstier sein. In der Forschung oft verwendete Mäuse oder Ratten seien in dieser Hinsicht weniger geeignet, sagt Lyko.

© SZ vom 05.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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