Psychologie:Der unsichtbare Gorilla

Wenn sich ein Affe unter ein paar Basketballspieler mischt, kann man das Tier dann übersehen? Ja, man kann. Unter dieser Art der Blindheit leiden selbst die schlauesten Menschen.

Von Sebastian Herrmann

Die Menschen sind alle gleich, zumindest in ihren Unzulänglichkeiten. Eine der zahlreichen Macken des Homo sapiens trägt im Deutschen den sperrigen Namen "Unaufmerksamkeitsblindheit". Hinter dem Wortungetüm verbirgt sich der Umstand, dass man häufig selbst aufdringlichste Dinge übersieht, wenn die Aufmerksamkeit nur auf etwas anderes gerichtet ist. Ein zotteliger Affe, der sich unter ein paar Basketballspieler gemischt hat, ist das berühmteste Beispiel dafür, wie leicht das Offensichtliche übersehen wird. Diese Form der Blindheit befällt auch Menschen, die ansonsten über beeindruckende geistige Fähigkeiten verfügen. Für die Gorilla-Studie hatten die Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons ihren Probanden die Aufgabe gestellt, sechs Basketballspieler zu beobachten. Drei trugen weiße, drei schwarze T-Shirts und warfen sich jeweils gegenseitig einen Ball zu. Die Aufgabe lautete, die Pässe der weiß gekleideten Spieler zu zählen. Und irgendwann latschte dann ein Schauspieler im Gorillakostüm durch das Bild. Völlig offensichtlich, doch die meisten Probanden bemerkten das nicht.

Wie dumm! Wer den kurzen Film sieht, kann nicht fassen, dass irgendjemand den Gorilla nicht sofort sieht. Wie peinlich! Wer selbst den Test wagt und ebenso blind wie die meisten ist, schämt sich. Doch es ist weder dumm noch peinlich, sondern nur normal, den Gorilla zu übersehen.

Dieses beruhigende Fazit lässt sich aus einer Studie zur Unaufmerksamkeitsblindheit ziehen, welche die Psychologin Carina Kreitz vom Institut für Kognitions- und Spielforschung der Deutschen Sporthochschule in Köln gerade im Fachblatt Perception veröffentlicht hat. Demnach sind Menschen unabhängig von ihrer sogenannten kognitiven Kapazität dafür veranlagt, den Gorilla im Raum zu übersehen. "Die geistige Leistungsfähigkeit beeinflusst so gut wie gar nicht, ob jemand anfällig für die Unaufmerksamkeitsblindheit ist", sagt die Psychologin. Vielmehr handelt es sich um eine wohl universelle Eigenart des Denkens und der Wahrnehmung. Und noch etwas berichtet Kreitz in ihrer Studie: Gerade weil etwas so offensichtlich ist, wird es leicht übersehen, nicht obwohl. Je deutlicher sich ein unerwarteter Reiz (etwa der schwarze Gorilla) vom Fokus der Konzentration (die Basketballspieler in den weißen T-Shirts) unterscheidet, desto leichter entgeht er der Wahrnehmung. Auch das ist irgendwie beruhigend.

Beim unsichtbaren Gorilla handelt es sich um das plakativste Beispiel für das Phänomen Unaufmerksamkeitsblindheit. Geprägt wurde der Begriff in den 1990er-Jahren von Arien Mack und Irvin Rock. Die beiden amerikanischen Psychologen ließen ihre Probanden damals die Länge von Linien vergleichen, die jeweils nur wenige Augenblicke auf einem Bildschirm eingeblendet wurden. Viele waren von dieser Aufgabe so absorbiert, dass sie das Quadrat übersahen, das gelegentlich auf dem Bildschirm auftauchte. In vielen Studien haben Wissenschaftler seither das Phänomen in vergleichbaren Laborversuchen oder Freiland-Experimenten beobachtet.

Young man in a gorilla costume making funny face against white background

Ein Schauspieler im Gorilla-Kostüm hatte in der berühmtesten Studie zur sogenannten Unaufmerksamkeitsblindheit einen großen Auftritt.

(Foto: action press)

Die einen präsentierten einen Clown auf dem Einrad, den vom Smartphone absorbierte Menschen nicht wahrnahmen. Die anderen inszenierten Verfolgungsjagden, bei denen die ahnungslosen Versuchspersonen einen Bekannten einholen sollten und dabei eine Prügelei am Wegesrand übersahen. Einen amüsanten Spezialfall des Effektes, die sogenannte Veränderungsblindheit, demonstrierten Daniel Simons und Daniel Levin. Ihr Experimentator sprach Passanten an und ließ sich auf einem Stadtplan den Weg erklären. Während des Gesprächs marschierten zwei Männer mit einer Tür auf den Schultern zwischen beiden hindurch. In dieser Deckung wechselte der Mann mit dem Stadtplan: Der Passant erklärte nun einer neuen Person den Weg und bemerkte es nicht.

Gibt ein Trainer zu viele Anweisungen, übersehen Spieler unerwartete Gelegenheiten

Wie praxisrelevant diese Befunde sein könnten, zeigte der Psychologe Daniel Memmert von der Sporthochschule Köln, der auch an der aktuellen Studie beteiligt war, im Fachblatt Sport Psychology. Die Kurzfassung seiner Versuche mit Handballspielern lautet: Je mehr konkrete Anweisungen ein Trainer seinen Spielern gibt und später vom Rand des Feldes plärrt, desto eher übersehen die Spieler unerwartete, aussichtsreiche Situationen wie etwa einen gut postierten Mitspieler. Durch die Instruktionen des Trainers konzentrierten sich die Handballer so sehr auf spezifische Spielzüge, dass sie blind für abweichende Muster waren.

Weder die Handballer noch andere Probanden der vielen Experimente zur Unaufmerksamkeitsblindheit litten an kognitiven Beeinträchtigungen irgendwelcher Art. Vielmehr sei wahrscheinlich, so argumentieren Psychologen, dass ihre geistigen Ressourcen durch eine gestellte Aufgabe so ausgelastet sind, dass das Gehirn quasi aus Gründen der Effektivität gezwungen ist, alle Reize auszublenden, die vom Raster abweichen. Eine fordernde Aufgabe verengt den Fokus. "Deswegen wurde lange vermutet, dass das kognitive Leistungsvermögen eines Menschen bestimmt, wie empfänglich er für die Aufmerksamkeitsblindheit ist", sagt Carina Kreitz. Ein großer Geist sollte schließlich mehr Ressourcen zur Verfügung haben. Doch die Untersuchungen dazu lieferten keine klaren Ergebnisse. Sie fanden entweder keine Korrelationen oder nur schwache und widersprüchliche.

Für ihre Studie ließ Kreitz 115 Probanden zwei verschiedene Symbole, die entweder schwarz oder weiß waren, auf einem Bildschirm zählen. Dann bewegte sich ein unerwartetes Zeichen über die Breite des Bildes. Zuvor hatten die Psychologen mit entsprechenden Tests das Leistungsvermögen des Arbeitsgedächtnisses der Probanden gemessen. Wer sich rasch viel merken kann, verbraucht weniger geistige Ressourcen für die gestellten Aufgaben und bemerkt den Gorilla beziehungsweise das überraschende Symbol leichter, so die Überlegung. Doch dafür fanden die Forscher keine Belege. Ein gutes Arbeitsgedächtnis schützte nicht vor Blindheit.

Kognitive Leistungstests verraten also nicht, wer für den Gorilla-Effekt anfällig ist. Mehr noch: Selbst wenn die Probanden wissen, dass bald etwas Ungewöhnliches präsentiert wird, übersehen es viele. Die australischen Psychologinnen Vanessa Beanland und Kristen Pammer berichteten, dass auch Psychologiestudenten dafür anfällig sind, die von der Unaufmerksamkeitsblindheit wissen. Sogar wenn sie explizit über das Phänomen aufgeklärt werden, fallen noch einige darauf herein.

Radiologen bemerkten Tierbilder nicht, die in Aufnahmen einer Lunge montiert waren

Etwa, wenn sich der unerwartete Reiz überdeutlich von dem erwarteten unterscheidet, wie Kreitz beobachtet hat. "Dann kann das dem gleichen Probanden mehrmals passieren, obwohl er darauf vorbereitet ist." Sollten ihre Testteilnehmer schwarze Symbole zählen, übersahen sie unerwartete weiße - obwohl sie wussten, dass sie erscheinen würden. Anhand konkreter Objekte demonstrierten die Psychologen Steven Most und Robert Astur den Umstand, dass hoher Kontrast die Unaufmerksamkeitsblindheit fördert: Sollten sich Teilnehmer in Fahrsimulatoren auf blaue Signale konzentrieren, übersahen und überfuhren sie unerwartet auftauchende gelbe Motorräder eher als blaue.

Was tun, gibt es ein Mittel gegen die Unaufmerksamkeitsblindheit? "Ich glaube nicht, dass sich das etwa durch Training vermindern lässt", sagt Kreitz. Nein, sogar Spezialisten sind anfällig, wie mal wieder der Gorilla zeigte. Diesmal versteckte der Psychologe Trafton Drew Bilder eines Affen in Scans von Lungen und legte sie Radiologen vor, wie er 2013 in Psychological Science berichtete. Die Ärzte sollten nach Knötchen im Lungengewebe suchen. Mehr als drei Viertel übersah dabei das Affenbild auf dem Scan, obwohl es bis zu 84-mal so groß war wie ein Knötchen. Es ist eben niemand perfekt. Nicht einmal Experten.

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