ARD-Serie "Charité":Deutschland 1888

ARD-Serie Charité

Arzt, Pathologe, Archäologe, Politiker und Freigeist: Ernst Stötzner alias Rudolf Virchow und Alicia von Rittberg alias Ida Lenz in der Pathologie der Charité alias dem Invalidovna in Prag

(Foto: ARD/Nik Konietzny)

Sönke Wortmann dreht eine Serie über das berühmte Berliner Krankenhaus Charité. Ein Setbesuch in Prag zwischen sehr alten Rollstühlen und Tierexponaten in Alkohol.

Von Lars Langenau, Prag

Die Berliner Schnauze hat eine hübsche Zusammenfassung für die Ereignisse des Jahres 1888 hervorgebracht: "Der greise Kaiser, der weise Kaiser und der Scheiße-Kaiser" regierten damals, im Drei-Kaiser-Jahr, in dem Wilhelm I. starb, sein Sohn und Nachfolger Friedrich III. nach 99 Tagen vom Kehlkopfkrebs dahingerafft wurde und am Ende dessen unberechenbarer Sohn Wilhelm II. auf den Thron stieg.

Es ist eine Zeit der Umbrüche, der Industrialisierung, der Bismarck'schen Sozialistenverfolgung und Sozialgesetze. In England treibt gerade Jack the Ripper sein Unwesen. Ähnlich morbid wie im Londoner East End geht es auch in einer Fernsehserie zu, die 2017 in der ARD gezeigt werden soll.

Produziert wird sie von Ufa Fiction, und deren Chef, Groß-Produzent Nico Hofmann, sagt, diese Zeit sei "fassungslos unerzählt". Sein Regisseur Sönke Wortmann, 56, findet die Kaiserzeit bislang auch fiktional unterbelichtet. Seit Mitte Oktober dreht er nun in Prag und Umgebung eine Serie über das wohl berühmteste Krankenhaus der Welt: Die Berliner Charité im Jahr 1888.

Es ist, sagen die Macher, die erste historische Krankenhausserie im deutschen TV. Vergleichbares kennt man nur aus den USA: The Knick von Steven Soderbergh mit Hauptdarsteller Clive Owen spielt im New York des frühen 20. Jahrhunderts.

Am Dienstag der vergangenen Woche stehen Regisseur und Schauspieler im Prager Stadtteil Karlín, im verwinkelten Gebäude "Invalidovna", um 1730 gebaut. Lange wurde das Gebäude als Heim für Kriegsversehrte genutzt, später als Militärarchiv. Bis 2002, denn da stand das Jahrhunderthochwasser auch dort bis zu zwei Meter hoch. Es sind kalte, nasse Gemäuer. Nach zweieinhalb Wochen Drehzeit schnieft inzwischen die Hälfte der bis zu 120 Personen umfassenden Crew.

Ideale Kulisse

Gerade wird eine Treppenhausszene gedreht, in der die Massen zur Vorführung eines neuen, angeblichen heilenden Serums drängen. Unter ihnen ist, historisch verbürgt, auch der britische Arzt Arthur Conan Doyle, der Erfinder der literarischen Figur des Sherlock Holmes. Wortmann lässt die Szene sieben Mal drehen ("kommse nochmal rein, junger Mann"), dann ist sie im Kasten. Er wirkt zufrieden.

Obwohl Regisseur und Schauspieler in dem ehemaligen Invalidenheim ständig die Orientierung verlieren, ist die Kulisse ideal: 15 Räume ersetzen Studios und sind für Kameramann Holly Fink zu 360 Grad nutzbar. Zwei Drittel aller Aufnahmen entstehen hier mit digitaler Technik und fast nur mit natürlichem Licht, was die Szenerie so düster macht. Aufgebaut sind eine Pathologie und ein Kreissaal in dem gerade noch ein Kind im Mutterleib zerstückelt wurde. Im verwitterten Innenhof stehen alte Holzkisten gefüllt mit Lauch, Zwiebeln, Kartoffeln und dem Grundnahrungsmittel Kohl.

Reale Vergangenheit eingebettet in eine fiktive Filmgeschichte

Die in reale Vergangenheit eingebettete fiktive Filmgeschichte handelt von einer ebenso mittel- wie elternlosen jungen Patientin namens Ida Lenz (gespielt von Alicia von Rittberg), die als Hilfsschwester unter einer bigotten Diakonissin (Ramona Kunze-Libnow) ihre Behandlungskosten abarbeiten muss und dabei ihre Leidenschaft für die Medizin entdeckt. "Die Geschichte der Charité wird aus den Augen dieser jungen Frau erzählt", sagt Hofmann. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden mit einer Geschichte des Erwachsenwerdens verquickt.

Die fiktive Ida Lenz also trifft die real-berühmtesten Mediziner jener Zeit: den Pathologen Rudolf Virchow (Ernst Stötzner) und die Forscher Robert Koch (Justus von Dohnány), Emil von Behring (Matthias Koeberlin) und Paul Ehrlich (Christoph Bach). Drei von ihnen sind spätere Nobelpreisträger. Der progressive Virchow fordert "Licht, Luft und Sauberkeit" und bessere Lebensbedingungen für das Proletariat.

Sein Kollege Koch gilt als Superstar der damaligen Zeit, dessen Entdeckung der Erreger des Milzbrands und der Tuberkulose noch heute Leben retten. Allerdings stellt sich sein Heilmittel als wirkungslos heraus, was ihn in Berlin zur Persona non grata macht. Auch sein Privatleben ist für diese Zeit atemberaubend ungewöhnlich: Er verliebt sich in eine 16-Jährige und wird mit ihr, zwar sozial geächtet, glücklich. Behring gilt belegt als manisch-depressiv und war im Kaiserreich dennoch ein Held, weil er ein Heilmittel gegen Diphtherie und Tetanus entwickelte.

Medizingeschichte, Emanzipationsgeschichte, Liebesgeschichte

Die Story wird anhand der Medizingeschichte, der Emanzipationsgeschichte von Lenz und ihrer Liebesgeschichte erzählt. "Es ist kein Dokumentarfilm, deshalb muss man das über persönliche Schicksale erzählen - dazu gehört eben auch eine ordentliche Liebesgeschichte", sagt Wortmann im sonnigen Hof des Invalidovna. Klar berge das die Gefahr einer Schnulze. "Aber da passe ich schon auf."

Bisher gibt es in Deutschland kaum ein vergleichbares Projekt. Nico Hofmann ist zwar seit vielen Jahren der erfolgreichste TV-Historiker des Landes, bislang hat er Geschichte aber vor allem in sogenannten Eventfilmen an den Zuschauer gebracht, mit Dresden oder Die Luftbrücke. Gerade aber sind Serien schwer en vogue, Hofmanns erste Serie Deutschland 83 startet noch in diesem Monat bei RTL, und die Begeisterung für das Genre lässt sich schon daran erkennen, dass Kino-Regisseur Sönke Wortmann sich überhaupt fürs Fernsehen in den Regiestuhl setzt.

Das ZDF arbeitet übrigens an einer Serie über dieselbe Klinik. Schön gaga

Hofmann und Wortmann sind Kommilitonen der Münchner Filmhochschule, hatten sich aber aus den Augen verloren. Bis Hofmann ihm das Projekt vorschlug. Wortmann sagt: "Ich möchte auch mal eine Staffel 1 im Schrank haben, die ich selbst gemacht habe." Wie groß der Hype um Serien gerade ist, ließ sich im vergangenen Jahr schön daran ablesen, als kurz nach Nico Hofmann auch Produzent Oliver Berben verkündete, eine Serie über die Berliner Charité drehen zu wollen, fürs ZDF. Schön gaga. Bei ihm heißt es auf Nachfrage, man arbeite noch immer daran.

Das Produktionsvolumen für Charité liegt dem Produzenten zufolge bei knapp 1,2 Millionen Euro für jede der sechs Folgen. Überraschend ist die Detailtreue der Ausstattung: Hier die Promotionsurkunde von Virchow mit Stempel an der Wand, da in Alkohol eingelegte Tierexponate, Skelette und Schädel von Menschen in seinem Arbeitszimmer. "Der Austausch mit den medizinhistorischen Beratern ist uns sehr wichtig, denn wir wollen mit großer Genauigkeit von dem historischen Stand der Medizin erzählen", sagt Co-Produzent Benjamin Benedict.

Jede Requisite, vom historischen Rollstuhl über Prothesen bis zum Sütterlin noch auf dem kleinsten Flakon wurde in Antiquitätenläden vor allem in Tschechien aufgespürt. Die Maske hingegen ist dezent: "Jemand wie Alicia von Rittberg sieht niemals richtig hässlich aus," sagt Wortmann. "Maske bedeutet bei uns aufgeschnittene Leiber." Die 21-jährige Schauspielerin fügt hinzu: "Normalerweise werden Augenränder und Rötungen weggeschminkt, die finden das hier aber ganz super, weil es Lebendigkeit ins Spiel bringt."

Morscher Kasten mit maroder Hygiene

"Damals war die Charité noch ein morscher Kasten mit maroder Hygiene", sagt Drehbuchautorin Dorothee Schön. Die zweifache Grimmepreisträgerin kam erstmals 2009 auf die Idee dieser Miniserie, weil sich an der Charité immer wieder "Zeitgeschichte materialisiert". Sie recherchierte mit der Ärztin und Medizinjournalistin Sabine Thor-Wiedemann über die katastrophale Versorgung der jährlich bis zu 4000 Patienten. Es war eine Zeit, in der Heilen noch Pflegen bedeutete und geistliche Krankenschwestern das Sagen hatten. Fortschritt war für sie Teufelszeug, Impfungen Irrlehre, Hygiene ein Fremdwort. 80 Prozent der meist jungen Patienten starben in dem Krankenhaus, das damals nicht als erste Adresse galt.

"Da standen 20 Betten mit hochansteckenden Patienten in einem Krankenzimmer, und für alle nur ein Abort im Holzschrank, es gab kein fließendes Wasser, geheizt wurde mit Torf, es gab nur Gaslampen, operiert wurde im Kerzenschein - und trotzdem wirkten hier zu dieser Zeit drei künftige Nobelpreisträger", sagt Schön. Das Jahr 1888 bedeutet Aufbruch, den Beginn der modernen Medizin, aber Charité soll eben auch ein wilhelminisches Sittengemälde werden.

Das ist ein großer Anspruch, vor allem wenn man bedenkt, wie Krankenhausserien in diesem Land bisher sonst aussehen: langweilig-hübsche Ärzte stehen nachdenklich dreinblickend an Betten von Patienten und feierabends gehen sie miteinander ins Bett. Charité will natürlich ganz anders sein, authentischer, relevanter. Große Brötchen. Dazu passt der Set-Besucher der kommenden Woche: Gesundheitsminister Hermann Gröhe.

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