Terrorserie:Was Freitagnacht in Paris geschah

Parallele Anschläge, eine Geiselnahme und mehrere Selbstmordattentate: Die Wucht der Attentatsserie des 13. November hat Frankreich überwältigt. Kurz nach 21 Uhr begann die Nacht des Terrors, gegen ein Uhr endete sie - vier Stunden mit weit mehr als hundert Toten.

Von Christoph Behrens, Bastian Brinkmann und Stefan Plöchinger

Die Attentate waren nach ersten Indizien koordiniert. Die Terroristen suchten sich Lokale in beliebten und belebten Stadtvierteln sowie den Konzertsaal "Bataclan" aus, um ihre Opfer wahllos zu erschießen - sowie die Umgebung des Stade de France,in dem gerade das Freundschaftsspiel Frankreich-Deutschland lief.

Nach neuesten Angaben sollen bei den Anschlägen mindestens 128 Menschen ums Leben gekommen sein. Auch acht Angreifer sind tot. Mindestens 180 weitere Personen wurden verletzt, 99 von ihnen schweben noch in Lebensgefahr.

Das Attentat ist eines der schwersten in Europa seit vielen Jahren und das zweite schwere in diesem Jahr in Paris - nach dem Massaker von Islamisten in der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo im Januar. Die Täter setzten ihre Waffen wahllos gegen Passanten und Besucher eines Konzerts ein und konnten nach Zeugenberichten alleine bei den Attentaten auf der Straße mindestens eine Stunde lang ungehindert agieren. Bei dem Überfall auf den Konzertsaal konnten sie Zeugen zufolge zehn bis 15 Minuten um sich schießen und mehrmals nachladen.

Laut Staatsanwaltschaft starben acht Attentäter, sieben von ihnen haben sich als Sprengstoffattentäter oder beim Sturm auf den Konzertsaal in die Luft gesprengt. Die Polizei sucht in jedem Fall nach Komplizen, Hollande hat den Ausnahmezustand ausgerufen und die Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen.

  • Was über die Täter bekannt ist

Einer der getöten acht Attentäter wurde inzwischen identifiziert. Es handele sich um einen Franzosen, der dem Geheimdienst bekannt war, hieß es aus Ermittlerkreisen. Der Identifizierte soll etwa 30 Jahre alt sein und anhand von Fingerspuren ermittelt worden sein, die er bei dem Blutbad in der Konzerthalle Bataclan hinterlassen habe, heißt es bei Le Monde. Die Zeitung berichtet weiter, dass in der Nähe des Selbstmordanschlags am Fußballstadion Saint-Denis ein syrischer Ausweis gefunden worden sei. Er könnte einem Flüchtling gehören, der Anfang Oktober aus der Türkei nach Griechenland gekommen war. "Der Inhaber des Passes war am 3. Oktober 2015 nach den Regelungen der EU auf der Insel Leros registriert worden", teilte der Minister für Bürgerschutz in Athen mit.

Augenzeugen berichteten zudem, dass die Angreifer in einem Auto mit belgischem Nummernschild kamen. Mehrere französische und belgische Medien meldeten, es werde vermutet, dass drei der acht Attentäter aus der Gegend von Brüssel stammen. In dem Ort Molenbeek fanden Hausdurchsuchungen statt. Ein Mann soll festgenommen worden sein.

Inzwischen verdichten sich die Hinweise auf eine Beteiligung der Terrororganisation "Islamischer Staat". In sozialen Netzwerken verbreiten Kanäle, die dem IS nahe stehen, ein Bekennerschreiben auf französisch. Das Dokument ist noch nicht verifiziert, unklar ist auch, ob der IS die Taten nur inspiriert oder auch gesteuert hat.

Ein Augenzeuge hatte zuvor berichtet, die Angreifer hätten "Allahu akbar" (Gott ist groß) gerufen. Ein weiterer sagte, die Angreifer hätten die Beteiligung Frankreichs an der Militärkoalition gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) erwähnt. Die Attentäter sollen nach übereinstimmenden Aussagen sehr jung sein, Beobachter schätzten ihr Alter auf unter 25 Jahre.

Frankreichs Präsident Hollande hatte bereits am Samstagvormittag den IS für die Terroranschläge verantwortlich gemacht. "Das ist ein Kriegsakt, der von der terroristischen Armee Daesh (Islamischer Staat), einer Dschihadistenarmee, verübt wurde", sagte Hollande. Der Angriff richte sich gegen "die Werte, die wir verteidigen, und das was wir sind: ein freies Land." Hollande sagte zunächst nicht, auf welchen Erkenntnissen diese Aussage beruht. Die Anschläge seien "von außerhalb vorbereitet und geplant gewesen, mithilfe von Komplizen im Inland", sagte der Präsident im Élysee-Palast. Die Ermittlungen würden die Verbindungen zu den Komplizen aufdecken.

Eine mögliche Spur führt nach Montenegro (mehr hierzu im Liveblog): Wie am Samstag bekannt wurde, war in Bayern vor einigen Tagen ein 51-jähriger Mann aus dem Balkan-Staat festgenommen worden. Bei der genaueren Untersuchung seines Fahrzeugs hatten Beamte ein Geheimversteck entdeckt, in dem sich mehrere Pistolen, Revolver, Munition, Maschinenpistolen sowie einige Kilogramm TNT-Sprengstoff befunden hätten, meldete der Bayerische Rundfunk. Aus den Unterlagen hätten die Ermittler geschlossen, dass der Mann nach Paris unterwegs war.

  • Sturm auf Konzertsaal "Bataclan" - mehr als 80 Tote

Das Bataclan ist ein bekannter Club auf dem Boulevard Voltaire, am Freitagabend spielte dort die Popband "Eagles of Death Metal". Gegen 21.30 Uhr stürmten Bewaffnete den Saal. Ein Reporter des Radiosenders Europe1 war vor Ort, als plötzlich "mehrere bewaffnete Individuen in das volle Konzert kommen", berichtete er. "Zwei oder drei Nichtmaskierte sind mit automatischen Waffen vom Typ Kalaschnikow reingekommen und haben angefangen, blind in die Menschenmenge zu schießen." Zehn bis 15 Minuten habe es gedauert. "Es war extrem gewalttätig. Panik brach aus, alle sind zur Bühne gerannt. Die Angreifer hatten alle Zeit, um ihre Waffen nachzuladen, mindestens drei Mal. Sie waren nicht maskiert, sie waren ziemlich jung." Auf seiner Flucht habe er ein Dutzend Leichen und Blut auf dem Boden gesehen.

"20 bis 30 Schüsse wurden abgefeuert", erzählte ein anderer Augenzeuge Le Monde. "Ich habe Sturmgewehre gesehen. Ich bin über Leichen drübergestiegen, da war Blut. Auf der Straße waren Tote." Im Bataclan habe ein "regelrechtes Gemetzel" stattgefunden, sagte ein Polizist später dem TV-Sender BFM. Die Angreifer nahmen die Überlebenden dann als Geiseln. Sicherheitskräfte umstellten das Haus - und stürmten es nach Mitternacht. Explosionen und Schüsse waren zu hören, Fernsehsender zeigten auf Bitten der Behörden keine Bilder des Polizeieinsatzes, der gegen ein Uhr endete.

Vier Angreifer waren nach dem Einsatz im Konzertsaal tot, teilte die Polizei der Nachrichtenagentur AFP mit; drei Attentäter hätten am Ende Sprengstoffgürtel gezündet. Details zu dem anderen und zu ihren Hintergründen gab es zunächst nicht.

Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters sollen im Konzertsaal 87 Menschen ums Leben gekommen sein. Die Zeitung Le Figaro sprach von 82 Toten. "Es sah aus wie ein Schlachtfeld", sagte ein Augenzeuge nach Angaben des Guardian. "Überall Blut, überall Leichen." Er sei auf der anderen Seite der Konzerthalle gewesen, als zwei Terroristen von der Galerie aus begonnen hätten, in die Menge zu schießen. Der Mann habe sich zu Boden geworfen und keinen Laut von sich gegeben. "Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Position verharrten, es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Ich dachte, ich bin erledigt." Wieso die Attentäter das Konzert als Ziel gewählt haben und ob es ein anderes Motiv dafür gab, als viele Menschen zu treffen, ist völlig offen.

  • Viele weitere Tote bei Attentatsserie in Szenevierteln

Schon zuvor hatten Attentäter ganz in der Nähe zugeschlagen, gegen 21.20 Uhr in einem bei Einheimischen wie Touristen beliebten Ausgeh- und Szeneviertel am Canal Saint-Martin. Mindestens zwei Männer feuerten einer Rekonstruktion von Libération zufolge in der Bar "Le Carillon" und gegenüber in dem kambodschanischen Restaurant "Petit Cambodge" um sich, an der Kreuzung Rue Alibert und Rue Bichat. Zeugen hörten demnach mehrere Salven Schüsse aus automatischen Waffen, einer sagte: "Es dauerte entsetzlich lange." Laut Le Figaro starben hier mindestens zwölf Personen.

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In der Rue de Charonne, südlich des Kanals, kam es gegen 22 Uhr zu einer weiteren Schießerei. Im Restaurant "La Belle Equipe" starben nach Schilderung von Le Figaro 18 Personen, Le Monde spricht von 19 Toten. Mehr als zehn Personen sollen dort verletzt worden sein.

In der Rue de la Fontaine au Roi, einige Hundert Meter vom Konzertsaal Bataclan entfernt, sollen nach Informationen von Le Monde und Le Figaro fünf Personen ums Leben gekommen sein. Die Täter schossen demnach auf der Terrasse der Pizzeria "La Casa Nostra" um sich. Weitere acht Personen sollen verletzt worden sein.

Einer der Attentäter soll am Boulevard Voltaire ums Leben gekommen sein. Ob es sich an allen Tatorten um dieselben Terroristen handelte und wie viele es insgesamt waren, ist unklar. Acht Attentäter sind in der Nacht ums Leben gekommen. Die Auswahl der Anschlagsorte weist auf kein bestimmtes Muster hin, sondern vor allem darauf, dass die Täter es auf möglichst viele Opfer anlegten.

  • Selbstmordattentat am Stade de France

Das Freundschaftsspiel Deutschland-Frankreich lief, als zwei laute Explosionen im Stadion zu hören waren - das Fußballspiel wurde nicht unterbrochen. Nach dem Abpfiff war die Lage unübersichtlich, die Stimmung nervös. Eine Durchsage über einen "incident extérieur" folgte, einen äußeren Zwischenfall. Deswegen seien nur einige Ausgänge offen. Als die Zuschauer auf der Ostseite die Arena verlassen wollten, kam es zu einer Panik. Die Menschen strömten zurück und auf das Spielfeld. Die Lage blieb etwa eine halbe Stunde unklar, ehe der Stadionsprecher die Zuschauer aufforderte, das Spielfeld und den Innenraum zu verlassen.

Erst nach Stunden wurde dann klar: An zwei Ausgängen des Stadions sind Sprengsätze explodiert, eine dritte Bombe ging vor einem Fast-Food-Restaurant in der Nähe des Stadions in die Luft. Für zwei der Explosionen waren Selbstmordattentäter verantwortlich. Es waren die ersten Selbstmordanschläge auf französischem Boden. Mindestens drei Menschen starben bei den Detonationen um das Stade de France, die ebenfalls belebte Orte zum Ziel hatten.

  • Wie die Anschläge einzuordnen sind

Die Terrorserie des 13. November ist eine der tödlichsten seit dem 11. September 2001 in der westlichen Welt, bilanziert das Intel Center. Nach bisherigen Erkenntnissen kamen dabei mindestens 120 Menschen ums Leben, mindestens 200 weitere wurden verletzt. Bei einem Anschlag in Spanien im März 2004 starben 191 Menschen - bei dem Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und den weiteren Ereignisse um und in Paris im Januar 17.

Anne Hidalgo, Bürgermeisterin der französischen Hauptstadt, sprach von "barbarischen Akten des Terrors", die Paris ins Herz getroffen hätten. Weltweit reagierten Politiker bestürzt und drückten ihre Anteilnahme aus.

  • Wie Sie Ihre Angehörigen in Paris finden können

Das Außenministerium in Berlin hat noch keine Gewissheit, ob unter den Opfern der Terroranschläge von Paris auch deutsche Opfer sind. Die offizielle Notfallnummer zur Suche nach Angehörigen in Paris lautet 0800 406 005. Außerdem hat Facebook die "Safety-Check"-Funktion für Paris aktiviert: Nutzer in den betroffenen Gebieten können über die Facebook-App oder auf einer eigens dafür eingerichteten Webseite eintragen, dass sie in Sicherheit sind und den Status ihrer Freunde einsehen.

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